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Unserer Zukunft auf der Spur

Publiziert am 19. Mai 2022 von Matthias Zehnder

Menschen stellen immer wieder die Zukunft in Frage. Ist die künftige Welt tatsächlich für uns gedacht? Sind wir vorbereitet auf das, was da kommt? «Die unaufhaltbare Schnelllebigkeit unserer Zeit, die Anhäufung unnützen Besitzes, eine scheinbar steigende Gewaltbereitschaft und die moralische Entkoppelung von der Natur sind jedenfalls Phänomene, welche vielen von uns nicht zukunftswürdig erscheinen», schreibt die Kulturanthropologin Bettina Ludwig. In ihrem Buch zeigt sie, dass das alles weder zur Zukunft noch zur Gegenwart gehören muss. Dazu untersucht sie Kulturen von Jägern und Sammlern in der Gegenwart. Wir erfahren, was es bedeutet, in einer Gesellschaft zu leben, in der Zeit keine Rolle spielt. Sie setzt sich mit der Frage auseinander, ob der Mensch von Natur aus gewaltbereit ist oder nicht. Sie untersucht verschiedene Mythen rund um die sagenumwobene Naturverbundenheit der sogenannten Naturvölker. Sie zeigt, wie es sich in einer Welt lebt, in der es kein Konzept von Besitztum gibt. Der springende Punkt all dieser Beispiele ist Kultur: die «Fähigkeit, die es uns als Menschen ermöglicht, Diversität zu leben und unterschiedlichste Formen des Zusammen-Lebens zu entwickeln». 

Als Kulturanthropologin ist Bettina Ludwig davon überzeugt, dass es ein Zurück-zum-Ursprung nicht gibt, ja nicht geben kann. Trotzdem finden wir in der Vergangenheit der Menschen Fähigkeiten, die uns in Zukunft nützlich sein können. Dazu gehört, etwas überraschend, die Kunst des Spurenlesens. Ludwig zeigt, warum Spurenlesen ein zentraler Aspekt des Lebens unserer steinzeitlichen Vorfahren war und warum uns diese Tatsache heute immer noch betrifft. Spurenlesen habe «uns alle zu WissenschaftlerInnen gemacht», schreibt Ludig. «Wir sprechen darüber, wie uns wissenschaftliches Schlussfolgern dabei hilft, unsere eigenen Spuren wahrzunehmen, zu interpretieren und dass es uns ermöglicht, von unseren vergangenen und gegenwärtigen Spuren zu lernen.»

Als Anthropologin geht es Bettina Ludwig darum, einen Diskurs auszulösen, bei dem es nicht nur um Zahlen, Statistiken und virologische Daten geht, sondern auch «um einen philosophischeren, einen menschlicheren Zugang» zum Menschen. Sie spricht deshalb bewusst grosse Fragen an wie die Frage, was Kultur ist, wo der Ursprung der Wissenschaft liegt und was wir unter Zeit verstehen. Wohl «wissend, dass es darauf keine finalen Antworten geben kann und es dennoch wichtig ist, diese Fragen zu stellen. Gerade jetzt.»

Spannend an dem Buch ist der Fokus auf die Jäger-und-Sammler-Gesellschaften. Es ist ein Forschungsgebiet, mit dem sich Bettina Ludwig intensiv beschäftigt hat. Sie hat sich damit auseinandergesetzt. wie und wo Jäger und Sammler leben, wie ihr Alltag aussieht, worüber sie nachdenken und was ihnen wichtig ist. Sie ist eingetaucht in das Leben von Gemeinschaften, deren Mitglieder vom Jagen, Fischen und Sammeln leben. Sie lernte, dass es von einigen dieser Gesellschaften keine Aufzeichnung zu deren Grammatik und Sprache gab. Was sie aber am meisten faszinierte, war die Tatsache, dass «diese Gesellschaften politisch, ökonomisch und sozial nach völlig anderen Regeln funktionierten, als ich das gewohnt war. Diese Diversität zu Beginn erst einmal nur zu erahnen, war faszinierend.»

Später stellte sie fest, dass sie durch diese Auseinandersetzung mit Jäger und Sammlern sehr viel über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der Menschheit gelernt hat: «Ich lernte zu verstehen, dass die sogenannte Gesellschaftsvergleichende Forschung uns einiges über die Natur des Menschen lehren kann.» Gleichzeitig begriff sie, dass diese Gesellschaften uns viel über allgegenwärtige Missverständnisse rund um eben diese Natur des Menschen verraten. Die Missverständnissen über Zeit, Naturverbundenheit, Gewaltbereitschaft und Besitztum greift sie in diesem Buch auf. 

Aus ihren Beobachtungen lässt sich einiges lernen. Zur Zeit sagt sie etwa, dass sich nicht nur die Zeitvorstellung von Jägern und Sammlern von unserer Vorstellung unterscheiden, sondern vor allem ihr Lebensrhythmus: Es gibt einen klar abgesteckten Gesellschafts-Rhythmus, der sich an den Gegebenheiten des natürlichen Umfeldes orientiert. «Er beginnt, sobald die Sonne aufgeht, orientiert sich weiter an den Temperaturen der unterschiedlichen Tageszeiten und endet, kurz bevor die Sonne untergeht.» In unserer Gesellschaft ist das ganz anders: Bei uns leben Menschen mit ganz unterschiedlichen Gesellschafts-Rhythmen zusammen und jeder Bereich hat seine eigene Taktung. Diese Differenzen von Rhythmus und Takt sind es, die uns Probleme bereiten, nicht unsere Vorstellung von Zeit.

Jäger und Sammler kennen zwar Besitz, verfolgen aber das Unmittelbarkeits-Prinzip. Die zentrale Frage lautet: Brauche ich das jetzt? Jäger und Sammler streben nicht nach mehr Dingen und stellen Gebrauchsgegenstände erst dann wieder neu her, wenn sie wirklich gebraucht werden. Einen Bogen auf Vorrat herzustellen, macht keinen Sinn. «Diese Überlegungen könnten wir ebenfalls anstellen, mit dem Ziel, weniger anzuhäufen und weniger Druck zu verspüren, Zeit in Geld umzuwandeln, um jenes schliesslich wieder in mehr Besitz umzuwandeln.»

Kurz: Ein spannender Blick auf die Gegenwart von Menschen, die völlig anders leben als wir, der zugleich ein Blick in die Vergangenheit der Menschheit ist und uns deshalb viel über unsere Zukunft verrät.

Bettina Ludwig: Unserer Zukunft auf der Spur. Wie wir waren, wer wir sind, wer wir sein können. Verlag Kremayr & Scheriau, 176 Seiten, 33.50 Franken; ISBN 978-3-218-01285-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783218012850

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