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Unser Essen – Killer und Heiler

Publiziert am 12. Januar 2023 von Matthias Zehnder

In diesem Buch hat Ernährungsmediziner Matthias Riedl die Essenz aus 30 Jahren Erfahrung zusammengetragen. Im Kern ist das sein Konzept der «artgerechten Ernährung», wie Riedl das nennt. Es sind Informationen darüber, «welche positive Wirkmacht unser Essen haben und so zum Heiler werden kann», wie er schreibt. Zur Essenz gehören aber auch Beobachtungen zur Frage, warum diese heilenden Kräfte bislang nur so wenige Menschen nutzen. Und, wie Riedl schreibt, warum unsere Ernährung «im Alltag so vieler zum Killer wird, der weltweit pro Jahr mehr Menschen tötet, als es Alkohol und Verkehrsunfälle tun.» Interessant dabei ist, dass Riedl nicht einfach an die Selbstdisziplin appelliert. Er klagt wortmächtig das «krankmachenden System» an, die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse, «die den Einzelnen nicht ausreichend schützen, etwa vor den Machenschaften der Lebensmittelindustrie.» Deshalb stecken im Buch auch Empörung und Wut. Riedl versteht es als seinen Auftrag als Arzt, «in aller Deutlichkeit über die Missstände aufzuklären. Und dafür zu kämpfen, dass jeder von uns Zugang zu wirklich gesundem Essen erhält.» Denn Lebensmittelindustrie und Supermärkte sorgen mit ihren Fertigprodukten, die meist zu viel Zucker, Salz und Fett enthalten, für eine schleichende Pandemie, deren Auswirkungen verheerender sind als die der Coronakrise.

Was ist das Problem? Eine durchschnittliche Ernährung könnte so aussehen: Herr und Frau Normalverbraucher essen Brötchen am Morgen, Kartoffeln mit Fleisch oder Fisch und ein bisschen Gemüse am Mittag, Brot mit Wurst und Käse am Abend. Dazwischen mal ein Keks, mal ein Apfel, abends ein paar Chips. Als Getränke Cola oder Limo. Laut Riedl essen und snacken die Menschen heute bis zu acht Mal am Tag. «Häufig überschreiten sie damit die empfohlene Tageshöchstmenge an Zucker deutlich, schaffen aber die ideale Gemüsemenge für einen Tag in einer ganzen Woche nicht.» Das ist ein Problem. «Denn eine solche Ernährung sorgt zum einen dafür, dass wir mehr Energie aufnehmen als wir verbrennen. Und zum anderen dafür, dass wir von den guten Nährstoffen zu wenig bekommen. Damit ist die typisch westliche Ernährung Ausgangspunkt Dutzender Krankheiten – und verschlimmert fast alle Beschwerdebilder.»

Das Problem: Die Industrie verschärft die Katastrophe, indem sie die Konsumenten an viele ungesunde Fertigprodukte gewöhnt. Riedl spricht von «Lügen über vermeintlich gesunde Snacks» und bezeichnet das als «health washing». Dazu kommen intensive Lobbyarbeit und politische Unterstützung. Ein Beispiel dafür ist die Unterstützung der Zuckerindustrie. Zum Leidwesen der Patientinnen und Patienten werden sie vom Gesundheitswesen alleine gelassen: «Obwohl inzwischen klar ist, wie krank die moderne westliche Ernährung uns macht und wie gut eine Ernährungstherapie gegen die allermeisten Krankheiten hilft, wird diese Option meist ignoriert.» Ärzte sind sich gewohnt, Krankheiten mit Medikamenten oder Operationen zu begegnen. Eine Ernährungsumstellung gehört als Option nicht dazu. Riedl schreibt: «Viele fachbereichsfremde Mediziner können sich einfach nicht vorstellen, dass sich etwa erhöhte Blutfettwerte häufig innerhalb weniger Tage normalisieren, wenn Betroffene ihre Ernährung auf artgerecht drehen und Fertigprodukte vom Speiseplan streichen.» Ganz besonders gilt das für Diabetes Typ 2, der meist auf Fehlernährung zurückzuführen ist. «Diese konsequente Missachtung einer wirkungsvollen Behandlungsoption stellt für mich beinahe eine Körperverletzung dar», schreibt Riedl. «Vor allem auch deshalb, weil sich immer wieder neue Möglichkeiten für eine Ernährungstherapie ergeben – häufig bei Krankheiten, die sonst nur schwer zu lindern sind.»

Den Grund für die Ablehnung der Ernährungstherapie sieht Riedl in der Schuldmedizin, die auf einer mechanistischen Vorstellung vom Menschen basiert. Der Körper wird als Maschine betrachtet, die bestmöglich zu funktionieren hat. Läuft sie nicht rund, sucht man nach dem konkreten Problem und einem Medikament, das es schnellstmöglich behebt. Doch wer nur Symptome behandelt, ändert an der Ursache der Symptome nichts. Beispiel Diabetes: Eine Insulinspritze bringt zwar den Zuckerspiegel in Ordnung, ändert am Diabetes aber nichts. Weil Diabetes Typ 2 in der Regel auf chronische Fehlernährung zurückzuführen ist, ist es viel sinnvoller, die Ernährung anzupassen.

Riedl sieht in unserer heutigen Ernährung zwei grosse Probleme. Hauptproblem Nummer 1 ist die zu hohe Energieaufnahme. Fertigprodukte, Snacks und Süssgetränke sorgen dafür, dass die Menschen in den Industrieländern im Schnitt viel zu viele Kalorien aufnehmen. Verantwortlich dafür sind oft auch vermeintlich gesunde Nahrungsmittel wie Smoothies, die sich bei genauerer Betrachtung als Fruchtzuckerbomben entpuppen. Hauptproblem 2 ist die Mangelversorgung. Das ist etwas paradox: Obwohl die meisten Menschen zu viel essen, leiden sie gleichzeitig an einer Unterversorgung von essenziellen Stoffen. Fertigprodukte enthalten zu wenig wertvolle Inhaltsstoffe. Das gilt auch für Fertigsalate oder vorgekochtes Gemüse. Riedl nennt zwei Beispiele für die Mangelversorgung. Besonders eklatant ist der Jodmangel. Zwar wäre die Jodversorgung der Bevölkerung über jodiertes Speisesalz sichergestellt. Weil aber immer weniger Menschen selber kochen und stattdessen zu (oft übersalzenen) Fertigprodukten greifen, konsumiert die Bevölkerung zu viel Salz, aber zu wenig Jod. Das zweite Beispiel ist der Mangel an Omega-3-Fettsäuren. Drei von vier Europäern konsumieren zu wenig Omega-3-Fettsäuren. Früher war die Versorgung mit ungesättigten Fettsäuren durch Lebensmittel wie Leinsamen und Leinöl, Fisch, Fleisch von artgerecht gehaltenen Weidetieren und Hühnern sowie deren Eier ausreichend sichergestellt. Entzündungsfördernde Omega-6-Fettsäuren aus Wurst, Fertigprodukten, industriellen Backwaren und Frittieröl kamen kaum auf den Tisch. Entsprechend lag das Verhältnis von Omega-6-Fettsäuren zu Omega-3-Fettsäuren früher bei gesunden 3:1. Heute liegt dieses Verhältnis oft bei 10:1 bis 20:1. Das macht krank.

Sind wir also doch selber schuld? Riedl sagt, das Problem sei, dass unser Organismus nicht auf unsere Umwelt angepasst ist, weil er dafür keine Zeit hatte: «Der Wechsel von einer weitgehend agrarischen Gesellschaft hin zu einer hochtechnisierten Moderne ohne viel Alltagsaktivität vollzog sich in gerade einmal 200 Jahren. Damit kamen Überfluss und Komfort viel zu schnell für unseren Körper.» Wir verhalten uns noch so wie die Jäger und Sammler in der Savanne, leben aber in einer Welt voller Fastfoodketten und Supermärkten. Kurz: «Unser evolutionäres Erbe wird zur Falle». Riedl nennt zwei zentrale Effekte, die früher für das Überleben wichtig waren, uns heute aber krank machen. Der erste ist die Schwäche für Süsses respektive eine Abneigung gegenüber Bitterem. In der Savanne war das sinnvoll, weil Süsses selten verfügbar war. Heute ist es gefährlich. Der zweite ist die Tendenz, beim Essen das Bekannte dem Unbekannten stets vorziehen. Dieser Effekt bremst jede Ernährungsumstellung ab, weil wir lieber altbekannten Gewohnheiten nachhängen, als neue Lebensmittel auszuprobieren.

Wie in vielen seinen Büchern beschränkt sich Riedl nicht nur auf Informationen über die artgerechte Ernährung, er gibt auch konkrete Tipps und eine ganze Reihe von Rezepten, wie sich eine solche Ernährung umsetzen lässt. Im Buch zeigt er anhand von Rezepten wie Hafer-Porridge mit Kirschen, Club-Sandwich mit Putenbrust, Möhrensuppe mit Kokosmilch oder Aprikosenkonfekt mit Mandeln, wie das konkret geht. Er beweist damit auch gleich, dass eine gesunde Ernährung auch so schmackhaft sein kann, dass man sie wirklich geniessen kann. Das Buch ist theoretisch wie praktisch ein Augenöffner und sollte zur Pflichtlektüre für Politikerinnen und Politiker erklärt werden.

Matthias Riedl: Unser Essen – Killer und Heiler. Wie wir etwas gegen die Katastrophe auf unseren Tellern tun können. Gräfe&Unzer, 176 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-8338-8303-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783833883033

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