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Selbstbestimmt bis zuletzt. Sterbehilfe in der Schweiz

Publiziert am 25. April 2022 von Matthias Zehnder

In der Schweiz ist möglich, was in den meisten Ländern verboten ist: Menschen, die schwer krank sind und ihr Leiden nicht mehr aushalten, dürfen selbstbestimmt sterben. Sterbehilfe ist seit vielen Jahren breit akzeptiert. In diesem Buch erzählt Karl Lüönd, wie es dazu gekommen ist, dass das Gesundheitswesen und die Behörden, die Politik und die Bevölkerung diese Freitodhilfe akzeptiert. Lüönd erzählt die Geschichte der Sterbehilfe der Schweiz in spannenden Episoden. Er setzt 1975 ein mit der Affäre Haemmerli: Aus heiterem Himmel wird Urs Peter Haemmerli, der Chefarzt der Medizinischen Klinik am Stadtspital Triemli, wegen des Verdachts auf vorsätzliche Tötung verhaftet.  Der Grund: Er hat gegenüber der Vorsteherin des Stadtzürcher Gesundheitsamts, Regula Pestalozzi, im Gespräch erklärt, dass er bewusstlosen, hoffnungslos kranken Patienten im letzten Stadium nur noch Wasser gebe. Auf diese Weise könnten sie aufgrund der «Null-Kalorien-Ernährung» langsam entschlafen. Die Verhaftung löst eine landesweite Diskussion über Sterbehilfe aus. Unter Druck kommt dabei aber nicht Professor Haemmerli, sondern Stadträtin Pestalozzi. 

Zu einem ersten, grossen politischen Ausrufezeichen kam es 1977, als die Stimmbevölkerung des Kantons Zürich völlig überraschend eine Initiative annahm, die das Einreichen einer Standesinitiative zur Ermöglichung der Sterbehilfe forderte. Eingereicht hatte die Initiative keine Partei, sondern ein Lehrling namens Rolf Wyler, der auf eigene Faust die Unterschriften zusammengetrommelt hatte. Die «NZZ» bezeichnete das Abstimmungsergebnis als «Panne der Demokratie» und erklärte, die Stimmberechtigten hätten wohl nicht gewusst, über was sie da abstimmten. 

«Der frühe Ruf nach Sterbehilfe, ob aktiv oder passiv, war nichts anderes als ein stiller Aufstand der Patienten», schreibt Lüönd. Denn bis dahin war das Verhältnis zwischen Arzt und Patient vergleichbar mit dem Verhältnis von Chef und Angestelltem – oder von Lehrer und Schüler. Die Ärzte waren noch Götter in Weiss und die Patienten hatten nichts zu sagen. Schon gar nicht, dass sie sterben wollten. Ende der 70er Jahre forderten sie deshalb eine Umkehrung der faktischen Macht- und Befehlsverhältnisse in den Spitälern. Es entstand die Idee von dem, was heute die verbindliche Patientenverfügung ist: Der Patient wurde zum Auftraggeber, der Arzt zum weisungsgebundenen Auftragnehmer. Lüönd schreibt: «Die Patientenverfügung war fortan das erste und wichtigste Ziel der Emanzipationsbewegung der Patienten, eindeutig wichtiger als Freitodbegleitung und passive Sterbehilfe.» 1982 wurde deshalb eine Selbsthilfebewegung von Patientinnen und Patienten gegründet. Ihr Name war Exit.

Die Geschichte von Exit und die Geschichte der Sterbehilfe in der Schweiz sind eng verwoben. Entsprechend ist ein grosser Teil des Buchs den politischen, moralischen und ethischen Kämpfen der Organisation gewidmet. Sieben Jahre nach der Gründung zählte Exit in der deutschsprachigen Schweiz bereits 37’000 Mitglieder. Am 21. März 1989 griff das Schweizer Fernsehen die Diskussion rund um die Sterbehilfe in einer «Club»-Sendung auf – das Thema war im Mainstream der breiten Öffentlichkeit angekommen. 

Die langen Auseinandersetzungen um die Sterbehilfe haben ein weltweit einmaliges Resultat: Heute hat jede Schweizerin und jeder Schweizer das Recht, selbst zu bestimmen, wann ihr oder sein Leben enden soll. Jede Ärztin und jeder Arzt darf das geeignete Medikament zur Einleitung des Todes verschreiben. Nur den Trank einnehmen oder den Verschluss der Medikamentenleitung öffnen, das muss die sterbewillige Person selbst. «Noch vor knapp 50 Jahren wäre diese inzwischen durch höchstrichterliche Praxis mehrfach bestätigte Freiheit undenkbar gewesen», schreibt Lüönd. In seinem Buch beschreibt er, wie es gekommen ist, dass die Schweiz in dieser Frage weltweit ein einzigartiges freiheitliches Modell ohne Spezialgesetz geschaffen hat. Die Antwort: «Ausschlaggebend war der Druck von unten im System der direkten Demokratie.»

Lüönd beschreibt in seinem Buch nicht nur die Auseinandersetzungen um das Sterben und den Tod in der Schweiz, er gibt den Diskussionen immer auch zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext. Das macht sein Buch über das eigentliche Thema hinaus zu einem spannenden Rückblick auf die Gesellschaftsgeschichte der Schweiz. Eingestreut hat er in seinen Bericht Portraits der Menschen, die das Thema geprägt und an den Diskussionen beteiligt waren, darunter etwa Hedwig Zürcher, die Initiantin von Exit, Sterbebegleiterin Elisabeth Kübler-Ross, der von der katholischen Kirche exkommunizierte Theologe Hans Küng, Ludwig A. Minelli, die Politiker und Ärzte Franco Cavalli und Felix Gutzwiller. Kurz: Ein spannendes Buch!

Karl Lüönd: Selbstbestimmt bis zuletzt. Sterbehilfe in der Schweiz. Vom Tabu zum Modell für Europa. Mit 36 Porträts. NZZ Libro, 315 Seiten, 36 Franken; ISBN 978-3-907291-46-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783907291467

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