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Schweizerdeutsch. Sprache und Identität von 1800 bis heute

Publiziert am 3. August 2020 von Matthias Zehnder

Die Deutschschweizer haben ein seltsames Verhältnis zu ihrem Dialekt. Viele sind stolz auf ihren Dialekt aus Basel, Bern, aus dem Wallis oder dem Appenzellerland. Gleichzeitig findet das offizielle und vor allem das intellektuelle Leben fast ausschliesslich auf Hochdeutsch statt. Viele Schweizer haben gegenüber den zungenfertigen Deutschen deshalb Minderwertigkeitskomplexe. Diese nicht ganz einfache Einstellung gegenüber dem Schweizerdeutschen hat eine Geschichte. Dieser Geschichte geht dieses Buch nach. Es untersucht das Deutschschweizer Sprachbewusstsein von vor 1800 bis in die Gegenwart und zeigt auf spannende Art und Weise, wie aus der Bauernsprache der Vergangenheit ein Dialekt entstand, der heute für hippe Swissness steht. Das Buch zeigt so aus unterschiedlichen Perspektiven: Die Art und Weise, wie wir die Dialekte heute einsetzen und verstehen, hat sehr viel mit der Geschichte, mit der Bewusstseinsgeschichte des Schweizerdeutschen zu tun.

Sprachbewusstseinsgeschichte – ein sperriges Wort. Es bezeichnet die Einstellung gegenüber einer Sprache oder einem Dialekt, respektive die Geschichte davon und ihr Wandel. Das Problem dabei: Die Einstellung ist selten bewusst und reflektiert. Es ist ein Bündel von Überzeugungen und Wertungen, Gefühlen und Verhaltensbereitschaften, welche die Mundarten oder die Hochsprache betreffen. Es ist das erste Buch überhaupt, das sich dieser Bewusstseinsgeschichte des Schweizerdeutschen widmet.

Dabei setzt das Buch 1800 ein. Der Grund ist einfach: Bis Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich eine überregional weitgehend einheitliche deutsche Schriftsprache ausgebildet. Parallel dazu wuchs in der Deutschschweiz das Bewusstsein, dass die deutschsprachigen Schweizer in einer besonderen Lage waren: «Anders als in anderen deutschsprachigen Regionen sprachen in der Deutschschweiz noch immer alle Schichten ihre lokale Mundart, obwohl auch hier die einheitliche deutsche Schriftsprache geschrieben wurde – das heisst, eine funktionale Zweisprachigkeit oder Diglossie war entstanden», schreiben die Autoren des Buchs. Diese Zweisprachigkeit wurde nach dem Beginn des 19. Jahrhunderts verstärkt diskutiert. Es war damals noch völlig offen, ob die schweizerdeutschen Dialekte in einer modernen Gesellschaft noch einen Platz haben könnten. Der Dialektgebrauch unter Schweizer Gebildeten wurde kritisiert, eine einheitliche Hochsprache eingefordert. Mit der Zeit setzte sich jedoch die Ansicht durch, dass die schweizerdeutschen Mundarten erhaltenswert seien – «und zwar auch und gerade, weil sie in besonderer Weise den Schweizer Charakter ausdrückten und prägten und folglich ein Symbol der Schweiz seien.»

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rückt die Angst der Deutschschweizer in den Vordergrund, ihre Dialekte zu verlieren. Das Hochdeutsche greift immer mehr um sich und in der Romandie hat das Französisch, wie es in Frankreich gesprochen und geschrieben wird, das Patois der Westschweizer schon weitgehend verdrängt. Die Befürchtungen führen zu Bemühungen, die Mundarten der Deutschschweiz möglichst gut zu dokumentieren und Dialekt und Hochdeutsch möglichst sauber zu trennen.

Im 20. Jahrhundert führen der Erste und der Zweite Weltkrieg und die damit verbundene Besinnung auf das Schweizerische zu einem nachhaltigen Umschwung im allgemeinen Verhältnis zu den schweizerdeutschen Dialekten. Schweizerdeutsch wird stärker zum Schlüsselmerkmal der Deutschschweizer Identität. Der Dialekt gilt jetzt als schützens- und pflegenswert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schliesslich führt die Informalisierung des Sprechens und Schreibens dazu, dass sich die Verwendung des Dialekts ausbreitet, weil die Mundart Nähe und Vertrautheit signalisiert. «In der deutschsprachigen Schweiz verstärkte das die Tendenz, die Dialekte in Lebensbereichen zu fordern und anzuwenden, in denen zuvor die Hoch- oder Standardsprache dominiert hatte. Die angestrebten oder bereits vollzogenen Veränderungen des Sprachgebrauchs in Kirche, Medien und gerade auch in der Schule entfachten in der Folge neue hitzige Debatten über das ‹richtige› Verhältnis von Dialekt und Standardsprache», schreiben die Autoren.

«Schweizerdeutsch. Sprache und Identität von 1800 bis heute» ist ein spannendes Buch über das Verhältnis der Deutschschweizerinnen und -schweizer zu ihrem Dialekt. Es sagt über die Sprache viel aus über das Selbstverständnis der Schweizerinnen und Schweizer und erklärt, warum Baseldytsch, Züritütsch und Bärndütsch auch im digitalen 21. Jahrhundert noch Zukunft haben.

Emanuel Ruoss, Juliane Schröter (Hrsg.): Schweizerdeutsch. Sprache und Identität von 1800 bis heute. Schwabe Verlag, 246 Seiten, 34 Franken; ISBN 978-3-7965-4035-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783796540356

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Buchtipp zum Wochenkommentar vom 31. Juli 2020: Die Grenzen der Schweiz – an Stelle einer Erst-August-Ansprache

Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps samt Link auf den zugehörigen Wochenkommentar finden Sie hier:

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