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Radikale Kompromisse

Publiziert am 3. März 2022 von Matthias Zehnder

Es ist die Kardinalfrage der Demokratie: Wie schaffen wir es, unsere Gesellschaft weiterzuentwickeln und zu verändern, ohne dass wir als Gemeinschaft auseinanderbrechen und alles im Chaos endet? Yasmine M’Barek zeigt in ihrem Buch das grosse Hindernis auf diesem Weg: Die zunehmende Kompromisslosigkeit in gesellschaftlichen Debatten. Das Problem sei, schreibt Yasmine M’Barek, «wie wir gesellschaftliche Debatten führen: nämlich, ohne dass wir einen Konsens anpeilen, obwohl es alle betrifft.» Doch so funktionieren Debatten nicht. Denn «der Diskurs fällt doch oft genau darauf zurück – auf die Ergötzung des Individuums, die Verabsolutierung der eigenen Meinung.» Woher kommt diese Kompromisslosigkeit? Sie zieht sich neuerdings durch alle Debatten «wie eine rote Schnur». Es gelte nicht mehr «Jeder nach seiner Façon». Sondern: «Die eigene Meinung konstituiert die Welt, wie sie zu sein hat.»

Treffliches Beispiel für die kompromisslose Art, wie nicht mehr debattiert, sondern nur noch auf dem eigenen Standpunkt beharrt wird, ist die Genderdebatte. Also die Frage, ob und wie die (Vielfalt der) Geschlechter in der Sprache sichtbar gemacht werden sollen. Sternchen, Doppelpunkt, Unterstrich oder gar nichts – diese Debatte ist längst keine Nischendiskussion mehr. Die Frage nach Inklusion durch Sprache ist überall angekommen. An Universitäten soll gegendert werden. Konservative fluchen über «Gendergaga». In Deutschland fordern CDU-Politker, dem Staat das Gendern zu untersagen. Was zu hämischen Kommentaren führte: Wieso, fragte man, fordern Konservative, eine Formulierung zu verbieten, mit der Begründung, dass niemand einem anderen vorschreiben dürfe, wie richtig gesprochen werde?

Mittlerweile manifestiert das Gender-Sternchen die politische Gesinnung. «Natürlich ist das völliger Quatsch, gendern doch mitunter etwa auch Liberale oder Konservative», schreibt M’Barek. Wie aufgeheizt die Debatte ist, zeigte der konservative Wahlkampf 2021. Der Bayrische Ministerpräsident Markus Söder twitterte vor der Wahl: «Dem Umerziehungsgeist, den die linken Parteien beim Gendern zeigen, dürfen wir nicht nachgeben. Wir stellen uns gegen solche Absurditäten. Wir lassen uns nicht vorschreiben, wie wir zu schreiben und zu denken haben!» Eine Diskussion findet längst nicht mehr statt. Beide Seiten trompeten ihre Position zur Selbstvergewisserung und Bestätigung ihrer Anhänger in die Welt hinaus und verhärten damit die Auseinandersetzung nur noch mehr. 

Leider ist das Gendern keine seltsame Ausnahme, sondern mittlerweile die Regel, wie die Gesellschaft mit Debatten umgeht.  Yasmine M’Barek fordert deshalb: «Radikale Kompromisse braucht das Land!» Demokratische Progressivität habe sich stets bewiesen, indem Idealisten die Grundprobleme des Systems aufzeigen und Realisten jene Lösungsansätze suchen, welche die Stagnierenden überzeugen. Veränderungen seien nur möglich, «wenn man es schafft, die Mitte der Gesellschaft für sie zu begeistern.» Das Internet und die damit verbundenen politischen Mechanismen hätten vergessen gemacht, wie wichtig die Kette von Idealisten, Realisten und Stagnierenden sei.

«Wir müssen wieder zu akzeptieren lernen, dass es keinen Nenner der Selbstverständlichkeiten gibt. Wir müssen wiederentdecken, dass wir mit nichts effektiver sind als mit radikalen Kompromissen», schreibt Yasmine M’Barek. Ihr Buch ist dabei kein Manifest für einen starken Liberalismus. Aber es ist getragen von der Überzeugung, dass sich genau über den Liberalismus eigentlich alles abspielt, was in einer Demokratie geschafft wird. «Unser grundlegendes Verständnis der Demokratie leitet sich davon ab – und stellt uns das Mittel der radikalen Kompromisse zur Verfügung.» Daraus ergebe sich eine wichtige Erkenntnis: «Wer fordert, hat nicht automatisch recht oder das Hoheitsrecht in der Debatte.»

Ein spannendes Buch und ein guter Denkanstoss, der leider auch in der Schweiz heute wichtiger ist denn je. Schliesslich ist unser Land die Inkarnation des politischen Kompromisses. Wenn unsere Politiker die Kunst zum radikalen Kompromiss verlernen oder ihnen die Mechanismen der aufmerksamkeitsgesteuerten Medien jeden Kompromiss verunmöglichen, dann ist Politik in der Schweiz nicht mehr möglich.

Yasmine M’Barek: Radikale Kompromisse. Warum wir uns für eine bessere Politik in der Mitte treffen müssen. Hoffmann und Campe, 192 Seiten, 26.90 Franken; ISBN 978-3-455-01334-4

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783455013344

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