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Piraten

Publiziert am 24. Januar 2023 von Matthias Zehnder

Nicht erst seit Johnny Depp ikonisch Captain Jack Sparrow verkörperte, gelten Piraten als Inbegriff der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Im 18. Jahrhundert erregten sagenumwobene Piratenkapitäne mit ihren Gräueltaten und anarchistischen Utopien gleichermassen grosses Aufsehen. Der Anthropologe David Graeber ist deshalb überzeugt, dass nicht der sogenannte Westen und seine Aufklärung, sondern die Piraten und Freibeuter die wirklich revolutionären Ideen für eine offene Weltgemeinschaft schufen. In seinem Buch über Piraten lässt er, ausgehend von der Piratengeschichte Madagaskars, die Leserinnen und Leser eintauchen in die anarchistische Geschichte von Magie, Lügen, Seeschlachten, Sklavenaufständen, Menschenjagden, Königreichen, Spionen und Juwelendieben. Piraten haben immer am Rand der bekannten Welt gelebt und deshalb die Ränder der Welt verschoben. Ihre Entdeckungen von Freiheit, Anarchie und Demokratie seien später vom Westen gekapert worden. Es ist ein mitreissend erzähltes Stück Weltgeschichte mit provozierenden Thesen. David Graeber lässt uns dabei nie im Zweifel darüber, welcher Seite seine Sympathien gelten.

David Graeber schreibt in seinem Buch über Piratenkönigreiche, reale und der Fantasie entsprungene. Es handelt auch von einer Zeit und einem Ort, in der und an dem die Unterscheidung zwischen Fantasie und Wirklichkeit sehr schwerfällt. Für einen Zeitraum von etwa 100 Jahren, ab dem Ende des 17. bis gegen Ende des folgenden Jahrhunderts, war die Ostküste Madagaskars der Schauplatz eines Schattenspiels von legendären Piratenkönigen, von Gräueltaten von Piraten, von Piraten-Utopien, allesamt umrankt von Gerüchten, von denen sich die Gäste in Kaffee- und Wirtshäusern der Anrainerstaaten des Nordatlantiks schockieren, inspirieren und unterhalten liessen. Aus heutiger Perspektive ist es unmöglich, diese Berichte zu entwirren und eine definitive Erzählung zu schaffen, die klarstellt, welche Geschichten der Wirklichkeit entsprachen und welche nicht.

«Man kann sich der Schlussfolgerung kaum entziehen, dass diese Geschichten sich halten, weil sie eine bestimmte Vorstellung von menschlicher Freiheit verkörpern, eine Vorstellung, die immer noch bedeutsam zu sein scheint, – die aber zugleich auch eine Alternative zu den Ideen von Freiheit bietet, die in europäischen Salons im Verlauf des 18. Jahrhunderts entwickelt werden sollten und bis heute dominant bleiben», schreibt Graeber. Der zahnlose Pirat mit Holzbein, der der ganzen Welt trotze, der mit dem Ertrag seines Beuteguts bis zur Besinnungslosigkeit trinke und schlemme, aber beim ersten Anzeichen ernsthaften Widerstands fliehe und dabei nur unglaubliche Geschichten und Verwirrung hinterlasse, sei «ebenso sehr eine Persönlichkeit der Aufklärung wie Voltaire oder Adam Smith, aber er steht zugleich auch für eine zutiefst proletarische Vorstellung von Freiheit, die zwangsläufig gewalttätig und kurzlebig ist».

Die moderne Fabrikdisziplin entwickelte sich auf Schiffen und auf Plantagen. Erst später übernahmen die frühen Industriellen in Städten wie Manchester und Birmingham diese Techniken der Umwandlung von Menschen in Maschinen. Graeber sieht die Piratenlegenden deshalb als dichterische Widerstandsform, die das in den Anrainerstaaten des Nordatlantiks sich herausbildende Proletariat hervorgebracht hat: Solange diese Formen der Disziplin – oder ihre subtileren und heimtückischeren modernen Ausprägungen – unser Arbeitsleben bestimmen, würden westliche Gesellschaften über Piraten fantasieren.

Das Hauptthema seines Buches ist jedoch nicht der romantische Reiz, der von der Piraterie ausgeht. Es ist eine historisch-anthropologische Arbeit, mit dem Ziel herauszuarbeiten, was gegen Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts an der Nordostküste Madagaskars tatsächlich geschah, als sich mehrere Tausend Piraten dort niederliessen. Laut Graeber hatten diese Piraten und ihre Geschichten eine grosse Wirkung auf Europa. Ihre Geschichten kamen rasch in Umlauf und beeinflussten laut Graeber auch die Entwicklung der politischen Theorie. Daniel Defoe, der Autor von «Robinson», schrieb 1707 in England einen Text, in dem er die Piraten von Madagaskar mit den Gründern des antiken Rom verglich: Er bezeichnete sie als Banditen, die sich auf einem neuen Territorium niederliessen, neue Gesetze schufen und sich schliesslich zu einer grossen Nation von Eroberern entwickelten.

Laut Graeber haben sich einige Formen der Demokratie, die von den Staatsmännern der Aufklärung entwickelt worden sind, ihre Premiere höchstwahrscheinlich in den 1680er- und 1690er-Jahren auf Piratenschiffen erlebt. Denn auf einem Freibeuter-Kahn gab es keinerlei formale Autorität. Die Piratenkapitäne mussten ihre Führungsrolle aus der Zustimmung der Geführten herleiten: «Piratenmannschaften wählten nicht nur ihre Kapitäne, sondern waren auch vertraut mit ausgleichenden Gegenkräften (in der Gestalt des Quartiermeisters und des Schiffsrats) und vertraglich geregelten Beziehungen von Individuum und Kollektiv (in der Gestalt von schriftlich niedergelegten Schiffssatzungen, in denen etwa die Anteile an der Beute und die Entschädigung bei Verwundungen im Kampf festgelegt wurden).»

So wird aus dem scheinbar romantischen Bild des Piraten unversehens ein Vorreiter für Demokratie und Gleichberechtigung. Wer hätte das gedacht.

David Graeber: Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit. Klett-Cotta, 256 Seiten, 33.90 Franken; ISBN 978-3-608-98719-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783608987195

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