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Philosophie des Fahrens

Publiziert am 18. August 2022 von Matthias Zehnder

In der Regel ist davon die Rede, was wir gewinnen, wenn das selbstfahrende Auto kommt: Zeit, Sicherheit, Effizienz, Nachhaltigkeit – die Liste ist lang. Selten ist davon die Rede, was wir verlieren, wenn der Autopilot das Kommando übernimmt. Der amerikanische Schriftsteller Matthew B. Crawford  geht dieser Frage in seinem Buch nach. Kurz gesagt: viel von dem, was Menschen ausmacht. «Die Anforderungen an unsere Fähigkeiten weichen dem Versprechen von Sicherheit und Annehmlichkeit» schreibt er. Autofabriken seien schon lange daran, die Menschen von der Strasse abzukoppeln. Ohne Schalthebel und Kupplung habe man kaum noch das Gefühl, etwas zu tun. «Dieser Mangel an Teilhabe des Fahrers wird durch Hilfsmittel wie den Tempomaten verstärkt, welche die Aktivität des Fahrers teilweise automatisieren.» Und dank GPS müssen wir kaum noch auf die Umgebung achten.

Crawford spricht deshalb von einem «stillen Umsturz», der erhebliche Auswirkungen habe. «Wir sind gut beraten, innezuhalten und darüber nachzudenken, in welche Richtung unser Weg führt.» In seinem Buch geht er der Frage nach, was so besonders ist am Fahren. Die Botschaft dieses Buches ist im weitesten Sinn politisch: «Angesichts der fortschreitenden Verwaltung und Befriedung zahlreicher Lebensbereiche möchte ich diese eine Domäne des Könnens, der Freiheit und der individuellen Verantwortung – das Fahren – untersuchen, bevor es zu spät dafür ist», schreibt Crawford. «Und ich möchte Argumente vorbringen, die dafür sprechen, die Menschen fahren zu lassen.» 

«Wenn es unser Schicksal ist, uns im Auto in blosse Passagiere zu verwandeln, müssen wir uns zuerst darüber klar werden, was wir aufgeben werden», schreibt er. Interessant an seinem Buch ist, dass er nicht einfach PS feiert oder Benzindunst und Motorendröhnen. Crawford denkt vielmehr philosophisch über das Fahren und die Freiheit nach. Er bleibt dabei aber nicht im abstrakten, sondern untersucht ganz konkret eine Reihe verschiedener automobiler Subkulturen: ein Demolition Derby im amerikanischen Süden, ein Wüstenrennen in Nevada, der professionelle Drifting Circuit, ein Offroad-Motorradrennen in Virginia, ein Seifenkistenrennen für Erwachsene in Portland (Oregon). Es sind mit anderen Worten Gemeinschaften, die sich durch eine ausgeprägte Begeisterung für Aspekte des Fahrens auszeichnen. Crawford macht an der Leidenschaft dieser Menschen verschiedene Aspekte des Reizes sichtbar, den das Fahren auf viele Menschen ausübt. 

Fahren, schreibt Crawford, sei ein Können besonderer Art. «Es ist nicht einfach das eines Fussgängers, denn es verbindet uns eng mit Maschinen.» Daher geht es in seinem Buch nicht darum, den Angriff des Autopiloten als Angriff der Technologie auf «das Menschliche» zu verstehen und zu verteidigen. Es geht Crawford nicht um den nackten, unschuldigen Menschen, sondern um eine «lebenslange Zuneigung zu etwas vollkommen Vertrautem – zu der Erfahrung, ein Auto oder ein Motorrad als eine Art Prothese zu verwenden, die unsere körperlichen Fähigkeiten erweitert.» Den Menschen, der sich um Fahrkompetenzen und ein Fahrzeug erweitert, bezeichnet Crawford als «Homo Moto». 

Diese «Homo Moto» ist nicht etwa ein verkrüppelter Mensch-Auto-Hybrid, sondern im Gegenteil ein besonders entwickelter Mensch. Aristoteles erklärte, die Tiere unterschieden sich von der übrigen Natur dadurch, dass sie sich «selbst bewegen». Menschen haben diese Selbstbewegung perfektioniert und bewegen sich oft ohne Grund. Heute wissen wird, dass sich die Bewegung, die Art und Weise, wie wir uns im Raum zurechtfinden und unsere Umwelt erkunden, auf die Entwicklung des Hippocampus auswirkt. Das ist die Struktur im Zentrum des Gehirns, wo wir unsere kognitiven Karten der Welt entwickeln. Bewegung führt also zu Spuren im Gehirn und zur Entwicklung des episodischen Gedächtnisses. Mit anderen Worten: Fahren hilft, Geschichten über uns zu erzählen. «Dieses Geschichtenerzählen gehört ins Reich des ausschliesslich Menschlichen», schreibt Crawford. «Wir existieren nicht einfach wie ein Tier, das vollkommen in der Gegenwart lebt – vielmehr interpretieren wir unsere Existenz. Das tun wir, indem wir eine Geschichte zusammenfügen, die den vergangenen Episoden unseres Lebens einen Sinn verleiht, und das so entstandene narrative Muster liefert eine Grundlage für die Vorstellung, die wir uns von unserer Zukunft machen.» Das bedeutet: Das, was wir uns als Identität schaffen, indem wir es als unsere Geschichte erzählen, scheint auf unseren grundlegenden motorischen Fähigkeiten zu beruhen. Das Auto macht Geschichte.

Es ist deshalb kein Zufall, dass in dystopischen Filmen wie «Blade Runner», «Total Recall», «Minority Report» und «Wall-E» die Fahrer zu Passagieren von selbstfahrenden Autos degradiert werden – von freien Menschen zu Verwaltungssubjekten, die gesteuert werden. Im wörtlichen Sinn. Das Gegenbild zu «Blade Runner» ist «Easy Rider». Ein neu zu der Gruppe gestossener Mann, der von Jack Nicholson gespielt wird, erklärt der Gruppe: «Die Menschen hassen euch nicht, weil ihr schmutzig seid oder lange Haare habt. Sie hassen euch, weil ihr frei seid.» 

Crawford geht es also darum, dass sich die Menschen ihre Freiheit bewahren sollen, ihre Autos selbst zu fahren, damit sie Menschen bleiben. Es geht nicht darum, dass sie möglichst viel oder möglichst schnell fahren, es geht darum, die Freiheit zu haben, Verantwortung wahrzunehmen. Ein spannender Gedanke und ein anregendes Buch. 

Matthew B. Crawford: Philosophie des Fahrens. Warum wir gern am Steuer sitzen und was das mit Freiheit zu tun hat. Ullstein, 480 Seiten, 38.90 Franken; ISBN 978-3-550-05054-1

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783550050541

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