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Oliver Sacks

Publiziert am 12. August 2021 von Matthias Zehnder

Oliver Sacks kennen Sie bestimmt als Neurologen, als Autor von «Awakenings», verfilmt mit Robert de Niro und Robin Williams, und von «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte». Bekannt war Sacks vor allem für seine Fallgeschichten: Er beschrieb komplexe Krankheitsbilder in einem gut verständlichen Stil, gespickt mit Anekdoten. Genau dieses Rezept hat der kalifornische Autor und Journalist Lawrence Weschler nun auf Oliver Sacks selber angewendet: Sein persönliches Porträt von Oliver Sacks speist sich aus Notizen, die er über Jahre über seine Begegnungen mit Oliver Sacks angefertigt hat. Er hat sich damit desselben Arbeitsprinzips wie Sacks bedient und fünfzehn Notizbuchbände gefüllt. Weschler hatte kurz nach der Veröffentlichung von «Awakenings» Kontakt mit Sacks aufgenommen. Sacks lebte in New York und war damals noch kaum bekannt. Weschler lebte damals in Kalifornien und hatte eben eine ausufernde Biografie über den Künstler Robert Irwin geschrieben. Kurz: Er suchte ein neues Thema. Also fragte Welscher Sacks an, ob er an einer Verfilmung des Buchs interessiert sei. Er wollte das Drehbuch dafür schreiben. Daraus ergaben sich erst Begegnungen und Gespräche, dann eine Freundschaft. Den Film realisierten später andere. Sacks nahm Weschler das Versprechen ab, die Beobachtungen und zum Teil intimen Anekdoten erst nach seinem Tod zu veröffentlichen. Zum Leidwesen von Weschler hielt Sacks sich selber nicht an sein eigenes Embargo und veröffentlichte eine Autobiographie, die viele der Anekdoten enthielt, die Weschler so lange gehütet hatte. Erst kurz vor seinem Tod erlaubte Sacks Weschler, das Material auszuwerten, ja, er gab ihm geradezu den Auftrag dazu: «Jetzt mach es!», sagte er. «Du musst es.»

Weschler besuchte Sacks damals teils mehrmals pro Woche, er reiste mit ihm nach London, wo er aufgewachsen war, begleitete ihn auf Visite, wo er unter anderem die letzten noch lebenden Awakenings-Patienten kennenlernte, tauchte mit ihm in Naturkundemuseen und botanische Gärten auf beiden Kontinenten ein, traf sich mit ihm zum Essen in New York City oder fuhr immer wieder zum City Island hinaus, wo Sacks ihm unbegrenzte Einsicht in seine Akten gab. Dann begann Weschler Interviews mit Kollegen und Jugendfreunden zu machen. Kurz: Das Buch basiert auf einer riesigen Materialfülle, dreht sich im Kern aber nur um eine Handvoll Jahre im Leben von Oliver Sacks: die Zeit nach der Veröffentlichung von «Awakenings», als Sacks unter einer Schreibblockade litt und er kaum voranzukommen schien in seinem Leben. Sacks war «mausarm», wie Welscher schreibt, hin- und hergerissen zwischen Grössenwahn und Nichtigkeitsgefühlen, in einem Haus auf City Island, das er einmal an einem Nachmittag in Badehosen beim Schwimmen gekauft hatte. 

Ursprünglich hatte Weschler keine Biographie geplant, sondern ein Porträt, die Oliver Sacks mitten in seinem Leben, im Aufbruch hätte zeigen sollen. «Doch das Leben kam dazwischen», erzählt er. Herausgekommen ist ein wunderbar intimes Memoir von Oliver Sacks. Besonders beeindruckt hat Welscher Sacks Umgang mit Patienten. Im Gespräch mit Kollegen (und mit ihm) konnte Sacks sehr fordernd sein.: «Wenn ich mit ihm spreche, habe ich manchmal das Gefühl, dass er nicht mit mir spricht – er ist so davon in Anspruch genommen, sich auszudrücken, dass sein Gesprächspartner verschwindet. In einer Minute kann er einem seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken und in der nächsten vollkommen mit sich selbst beschäftigt sein.» Wenn er dagegen mit Patienten sprach, konzentrierte er sich vollkommen auf sie. «Es ist, als würden die Patienten ihn aus seinem Narzissmus erretten, ihn in die Welt zurückziehen und ihm alles zurückgeben, was er ihnen gibt», schreibt Welscher. «Ihm ist eine ungewöhnliche Bewusstheit und Wahrnehmung seiner Seltsamkeit eigen, die er wahrscheinlich schon seit seiner Kindheit hat – eine Art Genialität zu besitzen muss ihn sehr einsam gemacht haben –, und doch, trotz aller Zwänge und Lächerlichkeit, hat er sich vollkommen unabhängig entwickelt. Er sieht sich selbst als integriert und hat damit vielleicht auch recht – er ist integriert, und wir anderen sind die Aussenseiter.»

Welschers Buch bewegt sich auf drei Ebenen: Die Gegenwart des Schreibenden im jetzt, nach dem Tod von Oliver Sacks, die von Welscher erzählte Vergangenheit der Begegnungen mit Sacks und die in dieser Vergangenheit wiedergegebenen Erzählungen von Sacks über seine Vergangenheit. Das klingt komplizierter, als es sich liest: Wie Sacks selbst ist der Stil von Welscher geprägt von Anekdoten. Es wird einem nie langweilig, immer zaubert Welscher noch eine Erinnerungs-Preziose aus seinen Notizbüchern. Er kreist Sacks auf dieser Weise von verschiedenen Seiten ein und portraitiert ihn mit dessen eigenen Mitteln. Faszinierend.

Lawrence Weschler: Oliver Sacks. Ein persönliches Porträt. Rowohlt, 480 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-498-07264-3

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