Buchtipp

Nächster Tipp: Radikale Kompromisse
Letzter Tipp: Lebensmittellügen

Olaf Scholz

Publiziert am 24. Februar 2022 von Matthias Zehnder

Er sieht ein bisschen aus wie Meister Proper oder ein erwachsener Charlie Brown. Er galt jahrelang als Langweiler, als Mann, der auch bei bester Gelegenheit, ja bei einem politischen Elfmeter, den Ball neben das Tor setzt. Wenn er das Wort ergriff, war alles immer schrecklich kompliziert – und ein bisschen langweilig. Deshalb hat Deutschland irgendwann gar nicht mehr hingehört. Dieser Olaf Scholz galt als Mann von gestern, über den man nichts wissen musste – ja: nichts wissen wollte. Weil man das Gefühl hatte, dass es da nichts zu wissen gibt. Noch wenige Wochen vor der Bundestagswahl am 26. September 2021 galt es als ausgeschlossen, dass der Scholz das Rennen machen würde. Und jetzt ist er Kanzler, gibt auf CNN Live-Interviews auf englisch, zieht der Pipeline Nordstream 2 den Stecker und führt Deutschland mit kühler Hand. Was haben wir da verpasst? «Wer ist uns Kanzler?» fragt «Zeit»-Journalist Mark Schieritz deshalb in seinem Buch. Er portraitiert Scholz als einen Erneuerer der Sozialdemokratie, der das Thema soziale Gerechtigkeit wieder ins Zentrum rückt und sagt: Scholz könnte ein Kanzler des Aufbruchs werden – wenn er es wagt.

In der Schweiz erinnert man sich an Olaf Scholz als Ersten Bürgermeister von Hamburg. 2011 bis 2018 regierte er die zweitgrösste Stadt Deutschlands, dann wechselte er als Finanzminister und Stellvertreter von Angela Merkel nach Berlin. In der Bundespolitik hat er aber schon vorher seine Sporen abverdient, etwa als Generalsekretär von Bundeskanzler Gerhard Schröder und als Bundesminister für Arbeit und Soziales. Mark Schieritz setzt natürlich früher ein. Er erzählt, wie Scholz Jura studiert und nach dem Zivildienst in einem Altenheim eine Anwaltskanzlei gründet. Scholz vertritt Arbeitnehmer, die gegen eine Kündigung klagen. Dabei ist er viel in Ostdeutschland unterwegs. Er tritt früh in die SPD ein. Politik heisst für ihn vor allem: Akten bearbeiten, Mehrheiten organisieren, Probleme lösen. Auch seine Frau Britta Ernst ist Politikerin – sie ist bis heute berufstätig. Scholz wurde im Wahlkampf geradezu ärgerlich, wenn man ihn fragte, ob seine Frau nach seiner Wahl weiterarbeiten würde. Das war für ihn selbstverständlich. Als Scholz in Hamburg politisierte, arbeitet sie in Berlin. Sie wurde Bildungsministerin von Schleswig-Holstein und wechselte nach der Abwahl der SPD in gleicher Funktion nach Brandenburg. 2021 wurde sie amtierende Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, die die Bildungspolitik in Deutschland koordiniert. 

Laut Mark Schieritz war es seine Frau, die Scholz zum Sport gebracht hat. Wenn es sich zeitlich einrichten lasse, dann gehe er heute joggen, rudern oder wandern. «Nicht so sehr weil es ihm Spass macht, das würde auch nicht zu Olaf Scholz passen. Er braucht keine Hobbys. Die Politik ist sein Hobby. Und sein Beruf. Mit dem Sport hat er angefangen, weil er festgestellt hat, dass er einfach nicht mehr fit war und etwas dagegen tun musste.» So tickt er. 

Obwohl Mark Schieritz seit Jahren über Olaf Scholz berichtet, kann auch er über den trockenen Hanseaten kein saftiges Enthüllungsbuch schreiben. Einblicke in die Art, wie Scholz funktioniert, gibt er trotzdem. Er erzählt zum Beispiel, wie es ist, Scholz zu interviewen. Es sei «nicht unbedingt ein Vergnügen» Denn «Scholz ist hinter den Kulissen nicht wesentlich unterhaltsamer als in der Öffentlichkeit: lieber ein Wort zu wenig als eines zu viel.» Das sei seine Devise. «Ein Interview ist für ihn gelungen, wenn er nicht auf Fragen antwortet, sondern einfach das sagt, was er sich vorgenommen hat. Wenn das nicht möglich ist, sagt er manchmal auch einfach nichts. Und grinst sein schlumpfiges Grinsen.»

Es sind solche Passagen, die uns den «Schlumpf» an der Spitze unseres Nachbarlands näher bringen als die einschlägigen, biografischen Erzählungen. Die im Buch natürlich auch vorkommen: Wir erfahren detailliert, wie Scholz sich als Finanzminister geschlagen und wie er die Corona-Krise gemanagt hat. Schieritz arbeitet sich ab an den grossen Themen der Deutschen Politik, Arbeit, Klima, Europa und er lässt auch die Pannen nicht aus, die Scholz widerfahren sind. Interessanter für Nicht-Deutsche sind aber Passagen, die offen legen, wie Scholz denkt. So bringt Mark Schieritz etwa zum Ausdruck, dass «Arbeit und Zukunft» im politischen Denken von Olaf Scholz eine Schlüsselrolle spielen. Es sei «kein Zufall, dass er einer Arbeiterpartei beigetreten ist, als Fachanwalt für Arbeitsrecht gearbeitet hat und Arbeitsminister wurde.» Für Schieritz ist «die menschliche Arbeit das Fundament einer Politik des Respekts, wie sie Scholz entwickelt hat.» 

Das Buch zeigt uns Olaf Scholz als ein Politiker, der sehr viel interessanter ist und für deutlich mehr Überraschungen sorgen könnte, als seine zurückhaltende, kühle Art vermuten lassen. Deshalb: ein spannendes Buch.

Mark Schieritz: Olaf Scholz – Wer ist unser Kanzler? S. Fischer Verlag, 176 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-10-397158-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783103971583

Wenn Sie das Buch lieber digital für Ihren Amazon Kindle beziehen möchten, klicken Sie hier: https://amzn.to/3JT3j6o

Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/ 

Abonnieren Sie meinen Newsletter, dann erhalten Sie jede Woche den Hinweis auf das Sachbuch der Woche in Ihre Mailbox geliefert: https://www.matthiaszehnder.ch/abo/