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Ohne Rücksicht auf Verluste

Publiziert am 18. Mai 2021 von Matthias Zehnder

Das Beispiel ist simpel und scheinbar harmlos: Auf ein Wiese am Waldrand im Bayrischen Wald spielen fünf Kinder Fangen, als plötzlich ein Wolf vor ihnen steht. Die Kinder bleiben ruhig stehen. So haben sie es gelernt. Doch plötzlich bekommt das jüngste Panik, dreht sich um und rennt los. Der Wolf rennt hinterher und packt das Kind am Hosenboden. Er lässt erst los, als eines der älteren Kinder mit einem Stock auf ihn losgeht. Der kleine Junge kommt mit dem Schrecken davon – der Wolf hat bloss seine Hose zerfetzt. Kein Blut, kein Problem. Am Tag darauf bringt die Boulevardzeitung «Bild» die Geschichte gross auf der Titelseite: Ein Junge sei von «zwei riesigen grauen Wölfen» angefallen und «schwer verletzt worden!». Erst drei andere Kinder «und ein Spaziergänger, der zufällig vorbeikam», hätten die «Bestien» in «letzter Sekunde durch lautes Schreien verjagen» können. Der Junge sei «stark blutend» ins Krankenhaus gebracht worden, wo man ihm «die klaffenden Bisswunden» genäht habe.

Das Beispiel sieht harmlos aus. Mats Schönauer und Moritz Tschermak zeigen anhand des Wolfs im Bayrischen Wald aber präzise, wie die «Bild» funktioniert – und welch verheerende Wirkung diese Methoden haben. Wie sie ganze Gruppen von Menschen – oder Tieren – dämonisieren und Feindbilder über Jahre hinweg aufrechterhalten. Denn von der Titelstory über den «stark blutenden» Jungen im Bayerischen Wald stimme kaum etwas. «Doch sie nährt das Narrativ vom «bösen Wolf». Sie macht Angst. Und Angst verkauft sich.» «Bild»-Artikel seien ein «Mosaik von emotional hochbesetzten, aber stereotypisierten Versatzstücken». Das Prinzip lautet: «Gefühle vor Fakten. Das ist ganz besonders in der Berichterstattung über jene zu beobachten, die «Bild» zum Gegner erklärt», schreiben Schönauer und Tschermak in ihrem Buch über Deutschlands grösste Boulevardzeitung. Vieles davon handelt zwar von der «Bild», es lässt sich aber problemlos auf andere Boulevardmedien übertragen, auf den «Blick», auf «20 Minuten», ja: auf alle Medien, die primär von der Aufmerksamkeit von nach Luft schnappenden Leser:innen leben – und das ist im Internet die Mehrzahl der Medien.

Schönauer und Tschermak wissen, wovon sie schreiben: «Wir lesen «Bild» jeden Tag», schreiben sie. Für die Seite Bildblog.de beobachten sie seit zehn Jahren die Berichterstattung der «Bild»-Medien, also der «Bild»-Zeitung, der «Bild am Sonntag», des Online-Portals «Bild.de» und von «Bild-TV». «In dieser Zeit haben wir Tausende von Bild-Geschichten nachrecherchiert und mit unzähligen Betroffenen und Experten gesprochen, um zu verstehen, wie die «Bild»-Redaktion arbeitet, welche Techniken und Tricks sie anwendet, wie sie Politik macht, wie sie Kampagnen fährt und was sie mit ihrer Berichterstattung auslöst und anrichtet.»

Die beiden setzen damit jene Arbeit fort, die Günter Wallraff in den 70er Jahren begonnen hat: Unter dem Decknamen «Hans Esser» recherchierte Wallraff undercover in der «Bild»-Redaktion und deckte ihre skrupellosen Methoden auf. 1977 erschien sein Buch «Der Aufmacher». Es war der Anfang einer kritischen Auseinandersetzung mit Deutschlands auflagenstärkster Zeitung. Seither haben sich Journalisten und Wissenschaftler immer wieder ausführlich mit «Bild» beschäftigt. Behauptungen, die «Bild» in die Welt setzt, lassen sich dank des Internets oft einfach überprüfen. «Heute braucht es also oft keinen Hans Esser mehr, um zu sehen, wie die Bild-Zeitung arbeitet», schreiben Schönauer und Tschermak. Man müsse nur genau hinschauen, dann sei deutlich zu erkennen, «mit welchen Strategien sie Ängste schürt, wie sie Ausländerfeinden permanent in die Karten spielt. Wie sie gezielt demokratische Institutionen torpediert. Wie sie Rechtspopulisten in den Bundestag verholfen hat. Wie sie den Ruf unschuldiger Menschen zerstört. Wie sie die Akzeptanz von Politik, Staat und Justiz gefährdet. Wie sie Feindbilder füttert, gesellschaftliche Debatten vergiftet und geistige Brände legt. Wie sie die schwersten Momente im Leben vieler Menschen noch schwerer macht.»

Genau das dokumentieren Schönauer und Tschermak in ihrem Buch. Denn obwohl schon lange bekannt sein müsste, wie unsauber und manipulativ die «Bild» arbeitet, ist sie auch heute noch die mächtigste Medienstimme in Deutschland. Besonders verheerend: Viele seriöse Journalisten übernehmen ungeprüft Falschinformationen und Thesen von der «Bild». Sie wird immer noch von Politikern und einflussreichen Personen gelesen. Zwar sinkt die Printauflage, durch den Ausbau des Onlinegeschäfts und die Erschliessung neuer Verbreitungskanäle erreicht die «Bild» aber weiterhin Millionen von Menschen, die ihr Tag für Tag Aufmerksamkeit und Glauben schenken. Was umso schwerer wiegt, da sie in letzter Zeit laut Schönauer und Tschermak «wieder brutaler geworden ist, verbohrter, tendenziöser, menschenverachtender» – und damit an ihre dunkelsten Zeiten anknüpfe, «die viele schon für überwunden hielten.»

Können wir in der Schweiz darüber die Schultern zucken, weil die «Bild» vor allem in Deutschland gelesen wird? Nein. Zum einen funktioniert der «Blick» ganz ähnlich. Wie die «Bild» ist auch der «Blick» tendenziell zum (politisch) rechten Boulevard zurückgekehrt. Viel schwerer aber wiegt, dass alle Medien sich in den letzten Jahren stark boulevardisiert haben, weil der rasche Klick im Internet das nächste Gut ist. Die Mechanismen, wie die Menschen online dazu gebracht werden, einen Artikel anzuklicken, sind bei Schweizer Onlinemedien dieselben wie bei «Bild.de». Deshalb ist das Buch auch für die Schweiz relevant.

Mats Schönauer, Moritz Tschermak: Ohne Rücksicht auf Verluste. Wie BILD mit Angst und Hass die Gesellschaft spaltet. Kiepenheuer & Witsch, 336 Seiten, 26.90 Franken; 978-3-462-05354-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783462053548

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