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Offene Geheimnisse

Publiziert am 6. Februar 2024 von Matthias Zehnder

Diese Woche sind UBS, Swisscom, Roche und ZKB dran, letzte Woche war die Reihe unter anderen an der Novartis: Anfang Jahr ist die Zeit der Jahresabschlüsse. Die grossen Firmen präsentieren die Kennzahlen zu Umsatz und Ertrag. Vielen Menschen schläft schon bei diesen Wörtern das Gesicht ein, ganz zu schweigen von den Zahlen. Nikolaj Schmolcke schreibt dagegen: «Bilanzen sind sexy – wirklich!» Wer die Grundrechenarten beherrsche, könne auch Jahresabschlüsse lesen und «als das erkennen, was sie sind: Wundertüten mit überraschenden, unterhaltsamen und immer wieder verblüffenden Erkenntnismöglichkeiten». In seinem Buch erklärt er Schritt für Schritt und gut verständlich, wie man eine Bilanz liest. Er sagt, jeder Jahresabschluss gebe nicht nur Informationen über das Unternehmen preis, sondern erzähle immer auch die Geschichte seiner eigenen Entstehung. «Damit verwandeln sich Abschlüsse in Geschichten von Wahrheit, Lüge, Verrat, Hoffnung und Enttäuschung.» Mit seinem Buch versetzt er uns in die Lage, mit zehn einfachen Fragen einem Jahresabschluss in wenigen Minuten zu entnehmen, was im betreffenden Unternehmen los ist. Seine Erläuterungen sind gespickt mit kleinen Beispielen aus echten veröffentlichten Jahresabschlüssen. So kann man beim Lesen selbst ausprobieren, ob man die Haare in der Bilanzsuppe findet. Das ist tatsächlich einfacher als gedacht und man fragt sich nach der Lektüre, wie es kommt, dass Unternehmen wie Wirecard Anleger, Wirtschaftsprüfer und Aufsichtsbehörden so lange an der Nase herumführen konnten.

Wenn Sie glauben, Buchhaltung und Bilanzen seien eine Erfindung der modernen, kapitalistischen Gesellschaft, dann irren Sie sich gewaltig: Die ältesten Schriftfunde der Menschheit in mesopotamischer Keilschrift sind nichts anderes als eine Buchhaltung aus dem Zweistromland. Die ältesten Texte der Menschheit sind keine Gedichte, keine Liebeserklärung, sondern ausgerechnet Buchhaltung. «Tatsächlich enthalten die ersten Aufzeichnungen der Keilschrift Schuldenlisten», schreibt Nikolaj Schmolcke in seinem Buch. «Dass wir sie heute noch haben, resultiert aus einer Anforderung an Buchhaltung, die sich bis heute nicht geändert hat: Die Aufzeichnungen dürfen nicht veränderbar sein und müssen aufbewahrt werden können.» Das Konzept der Kerben für Schulden hat sich übrigens bis heute gehalten: «Es findet sich auf den Bierdeckeln der meisten Kneipen; mit der begrenzten Haltbarkeit des Mediums wissen die Gastronomen umzugehen.»

Die Konstruktion einer Bilanz, wie wir sie bis heute kennen, ist auch nicht gerade neu: Die älteste Bilanz wurde erstmals 1426 in den Aufzeichnungen genuesischer Kaufleute nachgewiesen und 1494, also zwei Jahre nachdem Kolumbus nach Amerika gesegelt war, vom italienischen Mönch Luca Pacioli umfangreich beschrieben. Einfach gesagt ist eine Bilanz die visuelle Aufbereitung einer Subtraktion mit eingebauter Probe: Sie zeigt, welche Finanzmittel eine Firma hat, welche sie ausgegeben hat oder schuldet und was davon übrig bleibt. Wenn etwas übrig bleibt.

Schrittweise erklärt Schmolcke, welche Informationen eine Bilanz enthält und leitet die Leserin, den Leser dabei an, wie sich die fünf zentralen Fragen an einen Jahresabschluss beantworten lassen. Die erste ist verhältnismässig einfach. Sie lautet: Nach wie vielen Tagen hat die Wirtschaftsprüfung das Testat unterzeichnet? Schmolcke zeigt anhand von spannenden Beispielen, wie sich Probleme im Unternehmen an der Verzögerung ablesen lassen. In dem Jahr, als dem Volkswagen-Konzern die Dieselaffäre um die Ohren flog, testierten die Prüfer den Abschluss viel später als normal. Abweichungen vom Normalfall sind deshalb ein guter Indikator für Probleme. Auch die zweite Frage an den Jahresabschluss hat mit den Wirtschaftsprüfern zu tun: Welche Ausprägung hat das Testat? Das bedeutet: Ist das Testat eingeschränkt oder versagt? Gibt es Hinweishervorhebungen? Gibt es einen Wechsel der Prüfungsgesellschaft oder der handelnden Personen? Auch das könnte auf Probleme hindeuten.

Auch die dritte Frage an den Jahresabschluss hat noch nichts mit Zahlen zu tun, sondern mit Sprache. Sie lautet: Wie fasst der Vorstand die Entwicklung des Geschäftsjahres zusammen? Ist die Formulierung eindeutig? Ist die Zusammenfassung konzis und verständlich? Wie leicht macht es der Konzern dem Publikum, die Gesamtaussage sofort zu erfassen? Schmolcke schreibt, zur Beantwortung dieser drei Fragen müsse man etwa zehn Minuten investieren, ohne auch nur eine Zahl zu lesen. «Es kommt immer auf den Einzelfall an, aber nach meiner Einschätzung führen die Antworten auf diese drei Fragen zu etwa der Hälfte der Gesamterkenntnisse, die sich aus einem Jahresabschluss gewinnen lassen.»

Erst die vierte Frage an jeden Jahresabschluss hat mit Zahlen zu tun. Es ist die Frage nach dem Umsatz. Konkret: Wie entwickelt sich der Umsatz im Zeitablauf? Der Umsatz sei «der mächtigste Hebel, der zu Gewinnen in einem Jahresabschluss führt», schreibt Schmolcke. «Er informiert über die Bedeutung eines Unternehmens, über Risiken und Potenziale, und nur wenn der Umsatz gross genug ist, dass er alle Aufwendungen eines Unternehmens übersteigt, entsteht Gewinn.» Es gilt deshalb, nicht nur den Umsatz als solchen anzuschauen, sondern zu prüfen, ob er steigt oder sinkt und wie sich der Umsatz im Verhältnis zu Forderungen und liquiden Mitteln der Bilanz verhält.

Die fünfte Frage an jeden Jahresabschluss ist die offensichtlichste, es ist die Frage nach dem Gewinn (oder dem Verlust) des Unternehmens. Die Antwort auf diese Frage steht am Ende der Gewinn- und Verlustrechnung in Form einer positiven oder einer negativen Zahl. Dazu lässt sich fragen:

Steigt oder sinkt der Gewinn im Vergleich zu den Vorjahren? Wie wäre der Gewinn ausgefallen ohne aktivierte Eigenleistungen und Bestandsveränderungen? Die Fragen nach Umsatz und Gewinn seien «das absolute bilanzanalytische Minimum, das reflexhaft Teil jeder Analyse sein muss, und zwar ausnahmslos immer», schreibt Schmolcke. Eine Würdigung des Gewinns oder des Verlustes eines Geschäftsjahres ohne einen Blick in die Rückstellungen könne jedoch in die Irre führen. Deshalb zeigt er in seinem Buch, mit welchen Tricks die Firmen den Gewinn grösser machen, als er ist – und wie man ihnen dabei auf die Schliche kommt.

Ich war überrascht, wie spannend sich das Buch liest und wie einfach die Beispiele nachvollziehbar sind. Die vielen Übungen und Kontrollfragen fördern echtes Lernen durch die Lektüre und sorgen dafür, dass ich die Jahresabschluss-Saison dieses Jahr anders wahrnehmen werde.

Nikolaj Schmolcke: Offene Geheimnisse. Über die Leichtigkeit, Bilanzen zu lesen und im Geschäftsbericht Überraschungen zu finden. Econ, 288 Seiten, 28.90 Franken; ISBN 978-3-430-21105-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783430211055

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