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Nichts als die Wahrheit

Publiziert am 30. März 2023 von Matthias Zehnder

Georg Gänswein war jahrelang Privatsekretär von Joseph Kardinal Ratzinger und später von Papst Benedikt XVI. Niemand hat Benedikt XVI. besser gekannt. 20 Jahre lang hat Gänswein ihn begleitet, beginnend in der Zeit, als Ratzinger Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre war, dann in den Jahren des Pontifikats als Benedikt XVI. und auch danach, nach dem ausserordentlichen Rücktritt als Papst. In diesem Buch erzählt Gänswein aus der Ich-Perspektive von den Jahren an der Seite von Ratzinger. Geschrieben hat den Text der italienische Vatikanspezialist Saverio Gaeta. Es ist ein spannender und teilweise bewegender Rückblick, der 2003 mit der Berufung von Gänswein zum Privatsekretär Ratzingers einsetzt und mit dem Tod des emeritierten Papstes endet. Aus nächster Nähe erlebt man die letzten Tage von Johannes Paul II., die überraschende Wahl von Ratzinger, die Schwierigkeiten in seinem Pontifikat und den einmaligen Fall eines Papstrücktritts. Eingestreut in die Erzählung sind theologische Erläuterungen und Zitate aus Schriften und Reden von Ratzinger. Das Buch ist spannend zu lesen und intellektuell äussert interessant.

Als der damalige Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre Mitte Februar 2003 Georg Gänswein zu seinem Privatsekretär machte, ging Ratzinger davon aus, dass sie beide ein «Provisorium» seien: Ratzinger hatte schon vor Monaten das 75. Lebensjahr vollendet und bei Papst Johannes Paul II. um die Entlassung aus dem Dienst gebeten. Er wollte sich in sein Haus in Deutschland zurückziehen und Bücher schreiben. Doch der Papst hatte kein Einsehen. Im Gegenteil: Weil Johannes Paul II. erkrankte, musste Joseph Kardinal Ratzinger mehr statt weniger Aufgaben übernehmen. Ratzinger war nicht nur Präfekt des wichtigsten vatikanischen Dikasteriums, sondern ausserdem Dekan des Kardinalskollegiums, also quasi die Nummer zwei am Hof des Papstes. Gänswein erzählt, dass Ratzinger einen «umgekehrten Wahlkampf» betrieb, als Johannes Paul II. im Sterben lag: Immer wieder unterstrich er in aller Deutlichkeit seine Positionen, im Bewusstsein, dass er durch diese Klarheit kaum mehr wählbar war.

Es ist spannend zu lesen, wie Gänswein den Moment der Papstwahl am 19. April 2005 beschreibt. Wie er mit einigen Zeremoniaren, Beichtvätern und Sanitätern in der Benediktionsaula vor der Sixtinischen Kapelle wartete, als plötzlich um 17:15 Uhr in der dumpfen Stille der riesigen Säle schwach ein kurzer Applaus zu vernehmen war. «Wir schauten einander an und alle wussten, dass der Papst gewählt sein musste. Das Warten war aber damit noch nicht zu Ende, denn mir wurde gleich klar, dass dieser erste Applaus beim Erreichen der 77 für die Wahl notwendigen Stimmen erklungen war. Danach aber mussten die übrigen Stimmzettel ausgezählt, die Gültigkeit geprüft und der Gewählte feierlich gefragt werden, ob er die Wahl annehme.» Wer da gewählt worden war, wussten die Aussenstehenden noch nicht. 20 Minuten später brandete noch einmal Applaus auf, diesmal war er stärker. Die Kardinäle hatten einen neuen Papst gewählt. «Wir konnten die Spannung fast nicht mehr aushalten. Unter dem Bild des Jüngsten Gerichts konnten wir zwar eine weiss gekleidete Gestalt auf einem Thronsessel erkennen, nicht aber, wer es war, weil sie von den dicht gedrängten Kardinälen verdeckt war, die ihr der Reihe nach ihre Reverenz erwiesen. Ganz allmählich machte der geflüsterte Name die Runde: «Ratzinger, Ratzinger, Ratzinger … Benedikt, Benedikt, Benedikt …» und in einer Mischung aus Ergriffenheit und Angst wurde mir plötzlich ganz schwarz vor den Augen.

Oder der Moment, als Papst Benedikt XVI. im Rahmen eines Konsistoriums für ein Heiligsprechungsverfahren vor 50 Kardinälen überraschend seinen Rücktritt erklärte. Auf Lateinisch natürlich. «decisionem magni momenti» (eine Entscheidung von grosser Wichtigkeit), «ingravescente aetate» (infolge des vorgerückten Alters), «incapacitatem meam ad ministerium mihi commissum bene administrandum» (mein Unvermögen, den mir anvertrauten Dienst weiter gut auszuführen), «declaro me renuntiare» (erkläre ich zu verzichten), «Conclave ad eligendum novum Summum Pontificem» (das Konklave zur Wahl des neuen Papstes).

Papst Benedikt XVI. war auf Ende Februar 2013 emeritiert. Gänswein erzählt: «Am Morgen des 1. März 2013 machte Benedikt XVI. seinen neuen Status auch nach aussen hin sichtbar: Er trug nur die weisse Soutane und den weissen Pileolus, verzichtete aber – ausser natürlich auf die roten Schuhe – auf die Pellegrina und die Schärpe mit dem Papstwappen, denn diese beiden Kleidungsstücke werden, auch wenn diesbezüglich nichts schriftlich festgelegt ist, als Symbole der Verkündigung des Evangeliums und des päpstlichen Leitungsamts betrachtet. Auch den Fischerring, den er bis dahin am rechten Ringfinger getragen hatte, hatte er abgelegt und mir anvertraut, damit ich ihn zu Kardinal Bertone bringen konnte, der ihn in seiner Funktion als Kämmerer am 6. März mit einer X-Gravur entwerten liess.»

Gänswein beschreibt, wie er kurz nach der Wahl von Jorge Mario Bergoglio zu Papst Franziskus verzweifelt versuchte, in dessen Namen den emeritierten Papst ans Telefon zu holen. Benedikt weilte in der Residenz in Castel Gandolfo, war aber telefonisch partout nicht erreichbar. «Danach versuchte ich Don Alfredo auf dem Handy zu erreichen, doch niemand hob ab, weil, wie ich später erfahren habe, alle vor dem Fernseher sassen und die Telefone auf lautlos gestellt hatten. Niemand dachte auch nur im Traum daran, dass so schnell ein solcher Anruf kommen würde … Ich informierte Papst Franziskus, und er sagte mir, ich solle es weiter versuchen, damit er sich melden könne, nachdem er sich den Gläubigen gezeigt hatte.» Schliesslich schlägt Gänswein auf dem Posten der päpstlichen Gendarmerie Alarm. Vizekommissar Mauro De Horatis begab sich daraufhin selbst in die päpstliche Wohnung und kündigte den Anruf an. «Zurück von der Loggia delle Benedizioni kam Papst Franziskus zu mir ans Telefon und ich wählte erneut die Festnetznummer. Als Don Alfred abhob, reichte ich den Hörer weiter, während auf der anderen Seite Benedikt das Mobiltelefon übernahm.»

Es sind diese Erzählungen, die das Buch zu einem spannenden Stück Biografie machen: Man hat als Leser Gelegenheit, den Papst, das päpstliche Leben (und Denken) aus nächster Nähe zu verfolgen. Abgesehen von den Erzählungen führt Gänswein auch ein in die intellektuelle Welt von Ratzinger, sein Denken und seine wichtigsten Glaubenssätze. Auch das ist gut und plausibel vermittelt. Gänswein greift auch das Thema des sexuellen Missbrauchs auf. «Das entsetzliche Thema des von Männern der Kirche begangenen sexuellen Missbrauchs war den vatikanischen Jahren von Joseph Ratzinger, der als Kardinal wie auch als Papst nach Kräften gegen dieses Verbrechen gekämpft hat, wie ein Wasserzeichen aufgeprägt.»

Natürlich bietet das Buch keine neutrale, journalistische Erzählung. Es ist der Augenzeugenbericht eines engen Begleiters, ja eines Gläubigen. Das macht die Lektüre aber nicht weniger spannend.

Georg Gänswein, Saverio Gaeta: Nichts als die Wahrheit. Mein Leben mit Benedikt XVI. Herder Verlag, 320 Seiten, 39.50 Franken; ISBN 978-3-451-39603-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783451396038

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