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Natur, Kultur und Ungleichheit
Vor acht Jahren hat der französische Ökonom Thomas Piketty die Köpfe der europäischen Intellektuellen mit seinem Buch «Das Kapital im 21. Jahrhundert» im Sturm erobert. In den letzten Jahren hat er sich intensiv mit Gleichheit und Ungleichheit beschäftigt. In diesem schmalen Band legt er eine gut verständliche Synthese seiner Arbeiten vor. Die zentrale Frage: Gibt es so etwas wie natürliche Ungleichheit? Wie kommt es, dass in vielen Ländern derart krasse Ungleichheit zwischen den Reichsten und den Ärmsten und zwischen Männern und Frauen herrscht? Und wie kommt es, dass diese Ungleichheit so ungleich verteilt ist auf der Welt? Die kurze Antwort: Nicht die Natur ist schuld, sondern die Kultur. Ungleichheit hängt nämlich mit unterschiedlichsten sozioökonomischen, politischen, kulturellen, zivilisatorischen oder religiösen Entwicklungen zusammen. Die Vielfalt, das Ausmass und die Struktur der sozialen Ungleichheit kann also erst durch Kultur im weiteren Sinne erklärt werden. Die sogenannten «natürlichen» Faktoren, die individuelle Talente bei den Menschen oder die Bodenschätze bei den Ländern, fallen viel weniger ins Gewicht. Das bedeutet auch: Die Ungleichheit ist menschengemacht. Wir können etwas dagegen unternehmen. Ein spannendes Buch, das zum Denken anregt.
Warum sind Einkommen und Vermögen zum Beispiel in Schweden gleichmässiger verteilt als etwa in Indien? Weil die Schweden von Natur aus einen Hang zu Gleichheit haben? Mitnichten. Schweden war lange ein für europäische Verhältnisse besonders ungleiches Land und organisierte diese Ungleichheit auch sehr gründlich politisch. Das änderte sich erst im 20. Jahrhundert, als die Sozialdemokraten an die Macht kamen und das Land umbauten. Die Gleichheit in Schweden ist also das Resultat eines politischen Prozesses.
Das Beispiel Schweden zeige, «wie falsch die Vorstellung einer langfristigen Determiniertheit ist, der zufolge durch natürliche oder gar kulturelle Faktoren bestimmte Gesellschaften immer schon egalitär seien, während andere, zum Beispiel Indien, auf ewig inegalitär seien», schreibt Thomas Piketty. In seinem Buch untersucht er die Ungleichheit bezüglich Vermögen und Einkommen auf der Welt und zeigt, dass sie sich nicht durch natürliche Faktoren erklären lässt. Die Verteilung von Einkommen und Vermögen in einzelnen Ländern lässt sich nicht auf individuelle Talente, Begabungen oder Temperamente zurückführen. Und die grossen Unterschiede der Ungleichheit zwischen den Ländern lassen sich nicht durch natürliche Faktoren wie Bodenschätze erklären. Erdöl zum Beispiel gibt es im Nahen Osten und auch in Norwegen, doch die Einkommensverteilung ist eine völlig andere. Piketty folgert: «Zu den erheblichen Unterschieden im Ausmass der Ungleichheit tragen offenbar hauptsächlich die unterschiedlichen Institutionen bei, die sich die Gesellschaften gegeben haben und die ihrerseits durch eine unterschiedliche soziale, kulturelle, politische und ideologische Geschichte geprägt sind.»
In Europa lässt sich die Entwicklung zu mehr Gleichheit im 20. Jahrhundert laut Piketty durch den aufsteigenden Sozialstaat und die steigenden Bildungsausgaben erklären: «Bis zum Ersten Weltkrieg erhob der Staat weniger als 10 Prozent des Nationaleinkommens in Steuern und nutzte diese Mittel hauptsächlich zur Sicherung der öffentlichen Ordnung, zum Schutz des Eigentums, für Polizei und Justiz». Seit 30 Jahren liegen die Steuereinnahmen in Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und Schweden bei etwa 45 Prozent des Nationaleinkommens. Der wichtigste Faktor für die Egalisierung ist dabei Bildung. «Innerhalb eines Jahrhunderts haben sich die staatlichen Bildungsausgaben im Verhältnis zum Nationaleinkommen verzehnfacht», schreibt Piketty. Vor dem Ersten Weltkrieg beliefen sie sich auf weniger als 0,5 Prozent des Nationaleinkommens, nur eine winzige Minderheit der Kinder konnte über die Primarstufe hinaus die Schule besuchen. Heute liegen die Bildungsausgaben bei rund 6 Prozent des Nationaleinkommens. Wer etwas gegen Ungleichheit unternehmen will, sollte also in die Bildung investieren.
Besonders spannend am Buch von Piketty ist, dass er auch die Natur in seine Berechnungen einbezieht. Er sagt, dass die Frage der Ungleichheit und die Herausforderungen des Klima- und Umweltschutzes eng miteinander verknüpft sind. Er sagt deshalb: «Eine glaubwürdige Lösung für die Herausforderung der Erderwärmung ist ohne eine drastische Verringerung der Ungleichheit und ohne eine neue Entwicklungsstufe der Gleichheit nicht vorstellbar. Das liegt am erheblichen Nord-Süd-Gefälle zwischen den emittierenden Ländern und den ungleichen Emissionen innerhalb der Länder.»
Zu Hoffnung gibt Anlass, dass Piketty immer wieder zeigt, wie dynamisch Ungleichheit ist. «Viele Kämpfe wurden um Gleichheit geführt und gewonnen, viele Kämpfe können noch geführt werden», sagt Piketty. Und: Es gebe eine «langfristige, begrenzte, aber tatsächliche Entwicklung zur Gleichheit». Fragen rund um Finanzen und Wohlstandsverteilung dürften nicht einem kleinen Kreis von Ökonomen überlassen werden. Es müssten sich auch Fachleute anderer Sozialwissenschaften wie «Geschichte, Soziologie, Politikwissenschaft, Anthropologie und Ethnologie» einmischen in die Debatte und dazu Stellung beziehen.
Thomas Piketty: Natur, Kultur und Ungleichheit. Eine historische und vergleichende Betrachtung. Piper, 80 Seiten, 17.50 Franken; ISBN 978-3-492-32021-4
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492320214
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