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Misfits

Publiziert am 21. April 2022 von Matthias Zehnder

2018 sprach die britische Autorin, Schauspielerin, Regisseurin und Sängerin Michaela Coel auf dem Edinburgh Festival vor den Grossen der Fernsehbranche: Sie war eingeladen worden, die 43. MacTaggart-Vorlesung zu halten. Das ist eine prestigeträchtige Sache: Die Liste ihrer Vorredner der letzten Jahre liest sich wie das Who is Who der britischen Fernsehbranche. Michaela Coel war erst die fünfte Frau, die auf dem Podium in Edinburgh stand – und sie war die erste person of colour. Die Rede, die sie vor den (wahrscheinlich) vielen weissen Männern im Publikum hielt, bildet den Kern dieses packenden Buchs. Michaela Coel erzählt darin, wie es ist, als Aussenseiterin aufzuwachsen, sich durchzuschlagen und zu arbeiten. Die Vorwürfe sind nicht neu: Sexismus, Rassismus, gesellschaftliche Dünkel, Klüngelwirtschaft. Packend ist, wie Michaela Coel davon erzählt. Wie sie die systemische Verhocktheit der Gesellschaft demaskiert – und wie sie darauf reagiert hat. Mit unbändiger Kreativität. Das Buch ist deshalb zu einem Manifest für all jene geworden, die nicht reinpassen in die Gesellschaft oder die Wirtschaft – und zu einem Aufruf, kreativ darauf zu reagieren.

Michaela Coel ist die Tochter von ghanaischen Eltern, die sich bereits vor ihrer Geburt getrennt hatten. Sie wuchs deshalb zusammen mit ihrer älteren Schwester bei ihrer Mutter auf. In der Primarschule war sie das einzige schwarze Mädchen ihrer Altersklasse. Sie war entsprechend isoliert. Die Universität brach sie zweimal ab, dann wurde sie von einem Regisseur entdeckt und konnte sich an der Guildhall School of Music and Drama einschreiben. Sie war dort die erste schwarze Frau seit fünf Jahren, die a, Lehrgang teilnahm. 2012 machte sie ihren Abschluss. Als Abschlussprojekt schrieb sie ein Theaterstück: «Chewing Gum Dreams». Das Stück kam so gut an, dass sie ein Angebot erhielt, daraus eine TV-Show zu machen. So entstand die Comedy-Fernsehserie «Chewing Gum». Die Serie wurde von 2015 bis 2017 auf E4 ausgestrahlt und ist international auf Netflix verfügbar.  

Das sind die Eckdaten des Lebens von Michaela Coel. Wie es wirklich zuging in ihren Leben schildert sie in ihrem Buch «Misfits». Wie es war, als einziges, schwarzes Mädchen in der Schule. Wie es war, als ihrer Familie Hundekot in den Briefkasten gestopft wurde. Wie sie gemobbt, ausgegrenzt und immer wieder rassistisch angefeindet wurde. Das alles erzählt sie in ihrem Buch «Misfits». Das Buch ist aber kein Lamento, sondern die Herausforderung, das Leben gerade als Misfit zu packen und kreativ darauf zu antworten. Der Begriff «Misfits» hat für Coel eine doppelte Bedeutung: «Misfits sehen die Welt anders; manche von uns werden zu Misfits, weil sie von der Welt als anders gesehen werden. Grossbritanniens Schwarze, asiatische oder rothaarige Communitys zum Beispiel.» Und fügt bitter dazu: «In letzter Zeit scheinen Sender, Produktionsfirmen und Online-Streaming-Dienste auf der Jagd nach Misfits zu sein wie Kinder auf einem Spielplatz, die Süssigkeiten hinterherjagen, auf der verzweifelten Suche nach etwas zum Kauen. Über den Geschmack dieser Süssigkeiten, dieser Träume, wissen sie kaum etwas, aber sie merken, dass diese sehr profitabel sein könnten.»

Michaela Coel erzählt lakonisch aus ihrem Leben und macht deutlich, wie stark verbreitet sexistische und rassistische Diskriminierung auch heute noch ist – gerade da, wo man sie nicht vermuten würde. Sie haut dabei immer wieder Sätze raus, die man sich einfach anstreichen muss. Etwa: «Die einzige Macht, die wir haben, ist die Macht, ‹Nein› zu sagen.» Oder: «Während meiner gesamten Laufbahn wurde mir eingetrichtert: ‹So läuft das eben›» – natürlich versucht Coel es dann so zu machen, wie man «es» nicht macht. Sie erkämpft sich auf diese Weise kreative Freiräume, oder umgekehrt: Sie muss nun den Räumen, die sich auf diese Weise auftun, ihre ganze Kreativität einsetzen. «Im Laufe der Zeit haben sich einige von uns Techniken angeeignet, um unser Gefühl der Entfremdung in Humor umzuwandeln. Aber wenn man das Gefühl der Entfremdung vergessen hat, wie kann man dann darüber lachen?»

Das Buch macht auf zwei Ebenen Mut. Da ist zum einen die Geschichte, wie sich Michaela Coel als gesellschaftliche «Misfit» freigekämpft hat. Wie sie sich gegen Mobbing und Unterdrückung gewehrt hat – auch und gerade da, wo so genannt Kreative arbeiten. Und da ist zum anderen ihre beeindruckende Art, ihre Konflikte und Krisen kreativ zu überwinden. Entsprechend gibt es zwei Reaktionen auf den Text. Die eine ist das schlechte Gewissen, das sich einstellt, im Bewusstsein darüber, privilegiert zu sein und wohl auf die eine oder andere Art «Misfits» ungewollt gedemütigt zu haben. Coel schildert etwa, wie sie in der Geschenktüte ihres ersten Awards eine Bräunungscreme gefunden hat. Ein völlig normales Geschenk unter Weissen – das bei einer schwarzen Frau zum verletzenden Gefühl führt, nicht dazuzugehören. Die andere Reaktion ist Mut: Wenn Michaela Coel es unter so widrigen Verhältnissen geschafft hat, kreativ zu sein, dann habe ich wirklich keine Ausreden mehr. Also: Packen wir es an.

Michaela Coel: Misfits. Ein Manifest. Ullstein, 128 Seiten, 24.90 Franken; ISBN 978-3-550-20207-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783550202070

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