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Material World

Publiziert am 23. Januar 2024 von Matthias Zehnder

Wir leben alle immer digitaler. Onlinedienste, Netzwerke, Apps und digitale Daten prägen unseren Alltag. Man könnte meinen, wir hätten unser Leben entmaterialisiert. Aber ganz so einfach ist es nicht. Auch für die Cloud ist die physische Welt weiterhin die Grundlage. Die meisten Menschen sind weiterhin auf Rohstoffe angewiesen. Nur merken sie es nicht. Im Jahr 2019 zum Beispiel wurde mehr Material aus der Erdkruste gegraben und gesprengt als in der gesamten Zeit seit Anbeginn der Menschheit bis 1950. Ed Conway ist deshalb sechs dieser Rohstoffe auf den Grund gegangen. In seinem Buch erzählt er, welche Rolle Sand, Salz, Eisen, Kupfer, Öl und Lithium spielen. Er erzählt, wie die Stoffe gewonnen werden und welche Bedeutung sie in unserem Alltag haben. «Ich würde mir wünschen, dass dieses Buch dazu anregt, die Welt, in der wir leben, mit anderen Augen zu betrachten, eine Welt, deren alltägliche Gegenstände und Materialien voller Wunder und Magie stecken», schreibt er. Das ist ihm gelungen: Sein Buch ist voll spannender Geschichten und erschliesst uns die verborgene Welt der materiellen Dinge.

Nein, die sechs in diesem Buch beschriebenen Materialien sind nicht knapp. Sand zum Beispiel gibt es, so sagt es das geflügelte Wort, wie Sand am Meer. Auf jede Tonne fossiler Brennstoffe werden sechs Tonnen anderer Materialien ausgebeutet, vorwiegend Sand und Gestein, aber auch Metalle, Salze und Chemikalien. «Während wir als Bewohner der immateriellen Welt unseren Verbrauch an fossilen Brennstoffen zurückfahren, haben wir unseren Verbrauch an allem anderen verdoppelt. Dennoch geben wir uns dem täuschenden Glauben hin, es sei genau umgekehrt», schreibt Conway.

Rohstoffe wie Salz, Eisen oder Kupfer sind auch nicht besonders sexy oder furchtbar wertvoll. Und doch gehören die sechs Stoffen zu den Grundbausteinen der modernen Welt: «Sie sind zur Triebkraft für das Wohlergehen grosser Reiche geworden. Sie haben uns geholfen, Städte aufzubauen und niederzureissen. Sie haben das Klima verändert und könnten zu gegebener Zeit dazu beitragen, es zu retten», schreibt Ed Conway. Diese Materialien seien deshalb «die unbesungenen Helden der Neuzeit, und es ist an der Zeit, dass wir ihre Geschichte hören.»

Diese Geschichte erzählt er in seinem Buch. Oder besser: die Geschichten rund um die Materialien. Und Ed Conway kann erzählen. Sein Brot verdient er als Journalist bei Sky News und als Kolumnist bei der «Times». Für dieses Buch hat er die ganze Welt bereits und ist den sechs Rohstoffen wörtlich auf den Grund gegangen. Dem Sand zum Beispiel. Nein, es geht dabei nicht nur um Beton. Conway beginnt seine Geschichten rund um den Sand mit der Geschichte von Glas und erzählt, wie es kam, dass die Engländer aufgrund schlecht austarierter Steuern ihre eigene Glasindustrie Ende des 19. Jahrhunderts in den Ruin trieben und die deutsche Firma Zeiss bei Beginn des Ersten Weltkriegs das einzige Unternehmen war, das Ferngläser herstellen konnte. Die britische Armee rief zunächst die Zivilbevölkerung zu Spenden auf und gelangte dann über die Schweiz an die Deutschen. Die hatten nämlich kein Gummi mehr. So kam es mitten im Krieg zu einem spektakulären Handel: Die Deutschen verkauften den Briten Ferngläser von Zeiss (mit denen diese später ihre Artillerie auf deutsche Soldaten richtete) und kauften von den Briten Gummi. Es ist ein Beispiel dafür, wie abhängig wir von Rohstoffen und ihrer Verarbeitung sind.

Aber das ist nur der Anfang. Conway reiste zu den grössten Steinbrüchen der Welt und stieg in die Tiefen der tiefsten Mine Europas hinab. Er sah, woher Salz kommt und wie es sich in die Chemikalien verwandelt, ohne die wir alle nur mit Mühe überleben könnten. Er beobachtete, wie rotes Gestein sich in geschmolzenes Metall verwandelte und dann zu Stahl gehämmert wurde. Er reiste zu gespenstisch grünen Teichen, aus denen wir Lithium beziehen, und folgte der Substanz, als sie verklebt und gerollt und in eine Batterie für ein Elektroauto gepresst wurde. «Je mehr ich reiste, desto klarer wurde mir, dass ich während des grössten Teils meines Lebens in einer völlig anderen Welt gewohnt hatte, einer Welt, die mir jetzt sonderbar ‹flüchtig› vorkam», schreibt er. «Es ist eine Welt der Ideen. In der immateriellen Welt verkaufen wir Dienstleistungen, Management und Verwaltung; wir bauen Apps und Websites; wir übertragen Geld von einer Tabellenspalte in eine andere; wir handeln vorwiegend in Gedanken und Ratschlägen, in Haarschnitten und Lebensmittellieferungen. Wenn Berge auf der anderen Seite der Welt niedergerissen werden, erscheint uns das hier in der ‹flüchtigen Welt› nicht besonders wichtig.»

Doch das, schreibt Conway, sei eine grosse Selbsttäuschung: «Die materielle Welt ist das Fundament unseres Alltagslebens. Ohne diese Welt würde unser Smartphone mit seinem wunderschönen Design nicht funktionieren, unser nagelneues Elektroauto hätte keine Batterie. Die materielle Welt garantiert uns nicht die Traumwohnung, aber sie garantiert, dass es überhaupt Wohnungen gibt. Sie hält uns warm und gesund, macht uns sauber und satt, ganz gleich, wie wenig Aufmerksamkeit wir ihr schenken.»

Bloss ist diese Welt verborgen unter der glänzenden Oberfläche der digitalen Welt, in der wir heute leben. Entsprechend wenig bekannt sind die wichtigsten Unternehmen der materiellen Welt, Firmen wie CATL, Wacker, Codelco, Shagang, TSMC und ASML. Conway schreibt: «Die Namen bedeuten den meisten Menschen nichts, aber sie sind mindestens ebenso wichtig und vielleicht sogar wichtiger als die vertrauten Marken, die jeder kennt, die Amazons, Apples, Teslas und Googles dieser Welt.» Es sei «das am besten gehütete Geheimnis» der modernen Wirtschaft: «Die weltbekannten Marken sind völlig auf die unbekannten Firmen aus der materiellen Welt angewiesen, um ihre Produkte herzustellen und dafür zu sorgen, dass ihre klugen Ideen – nun ja – materialisiert werden.»

Ed Conway lüftet in seinem Buch dieses Geheimnis auf ebenso spannende wie lehrreiche Weise.

Ed Conway: Material World. Wie sechs Rohstoffe die Geschichte der Menschheit prägen. Hoffmann und Campe, 544 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-455-01692-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783455016925

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