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Mamas letzte Umarmung
Als Menschen sich noch die Hand geben durften, rochen sie danach an der Hand, vor allem, wenn sie Kontakt zu einer Person gleichen Geschlechts hatten. «Instinktiv halten wir unsere Hand nahe ans Gesicht, um die chemische Duftmarke wahrzunehmen, die Aufschluss über die Verfassung des anderen gibt», schreibt der Primatenforscher Fans de Wall in seinem neuen Buch. Wir machen das natürlich unbewusst. Dokumentiert wurde das Verhalten mit versteckten Kameras. «Dieses Verhalten ähnelt dem anderer Primaten», schreibt de Waal. «Und doch betrachten wir uns gern als rationale Akteure, die genau wissen, was sie tun, während wir andere Spezies als Automaten hinstellen. So einfach ist es aber beileibe nicht.» Also beobachtet Frans de Waal Menschen mit derselben Unvoreingenommenheit wie Tiere. Er schreibt: «Die Ergründung der menschlichen Psyche stützt sich hauptsächlich auf Fragenkataloge, die selbstberichtete Gefühle stärker gewichten als tatsächliches Verhalten. Ich ziehe das Gegenteil vor. Was wir brauchen, sind mehr Beobachtungen von sozialen Interaktionen.»
Interaktionen, wie er sie jahrelang bei Primaten und anderen Tieren beobachtet hat. Ja, auch bei anderen Tieren. Frans de Waal ist sicher: «Emotionen sind überall im Tierreich anzutreffen, bei Fischen ebenso wie bei Vögeln, ja sogar bei Insekten und schlauen Mollusken wie dem Tintenfisch.» Der Mensch ist dabei nicht so besonders, wie er sich selber einbildet: Unsere Spezies unterscheidet sich bei Lichte betrachtet emotional kaum von anderen Säugetieren. Frans de Wall schreibt, es wäre «vermessen, menschliche Emotionen als einzigartig herauszustellen». Deshalb sind wir «gut beraten, uns den emotionalen Hintergrund, den wir mit unseren Mitbewohnern auf diesem Planeten gemein haben, genauer anzuschauen.»
Die Beobachtungen von Schimpansen und von Menschen, die Frans de Waal beschreibt, sind faszinierend. Sie eröffnen uns einen Blick in die soziale und emotionale Welt der Menschenaffen – und ermöglichen spannende Reflexionen über uns selbst. Der Titel des Buchs bezieht sich auf «Mama», eine Schimpansenmatriarchin im Burgers Zoo in Arnheim. Sie stirbt kurz vor ihrem 59. Geburtstag und hinterlässt in der Schimpansengruppe eine grosse Lücke. Frans de Waal beschreibt, wie «Mama» ihre Schimpansengruppe im Griff hatte, obwohl weibliche Schimpansen nicht zuoberst in der Rangfolge stehen können. «Mama» hatte dennoch viel Einfluss – weil sie das Verhalten der anderen Tiere lesen und ihre Reaktionen voraussagen konnte. Sie hatte die Fähigkeit, Beziehungen zu verstehen, die nichts direkt mit ihr selbst zu tun haben. Bei Bedarf griff sie ein, schmiedete Allianzen, schlichtete Streit und stellte Jungtiere in den Senkel. Frans de Waal beschreibt, wie er die Hierarchien und die Machtverteilung unter den Schimpansen beobachtete. Und das in der Flower-Power-Zeit der 1970er-Jahre: «Wir Studenten waren anarchisch, erzdemokratisch, misstrauten den ‹Bonzen› von der Universität, betrachteten sexuelle Eifersucht als antiquiert und jede Form von Ehrgeiz und Machtstreben als verwerflich. Die Schimpansenkolonie, die ich tagein, tagaus beobachtete, war das genaue Gegenteil von der Gesellschaft, die uns vorschwebte. All die ‹reaktionären› Neigungen, die wir ablehnten, waren dort in Hülle und Fülle vorhanden: Macht, Ehrgeiz und Eifersucht.»
Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie Frans de Waal sich über tierische und menschliche Emotionen Gedanken macht, wie er den Finger auf (vermeintliche) Unterschiede hält – und wie er den Menschen immer wieder auf den gemeinsamen Grund führt, den er mit den Tieren teilt. Das Buch handelt zwar vor allem von Schimpansen, es erklärt aber mehr über zwischenmenschliche Beziehungen und Gefühle als so mancher Psychologieratgeber. Faszinierend.
Frans De Waal: Mamas letzte Umarmung. Die Emotionen der Tiere und was sie über uns aussagen. Klett-Cotta, 430 Seiten, 37.90 Franken; ISBN 978-3-608-96464-6
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