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Macht und Wahn
Entsetzt hat die Welt diese Woche zuschauen müssen, wie Afghanistan kollabiert ist. Seither fragen sich Politiker und Journalisten, wie es sein kann, dass 20 Jahre Aufbauarbeit der Amerikaner innen einigen Tagen in sich zusammenfallen können. Dieses Buch bietet quasi den Kontext dazu: Seit Ende des Zweiten Weltkriegs, also seit über 75 Jahren, kämpfen Russland und Amerika miteinander – allerdings nicht offen auf einem Schlachtfeld, sondern verdeckt in Drittländern mit Spionage, Diplomatie, Sabotage und Desinformation. Tim Weiner hat als Korrespondent unter anderem aus Afghanistan, Pakistan und dem Sudan berichtet. Heute arbeitet er für die «New York Times» und gilt als einer der führenden Experten für das amerikanische Geheimdienstsystem. In seinem Buch erzählt er, wie die USA und Russland um Einfluss auf der Welt kämpfen. So haben das Weisse Haus und der Kreml im Verlauf des 20. Jahrhunderts ihre Agenten und Diplomaten auf der ganzen Welt dazu angewiesen, mindestens 117 nationale Wahlen zu manipulieren. Sie wetteiferten um die Kontrolle über Länder in Afrika, Asien, Lateinamerika und im Nahen Osten und kauften sich mit Gewehren und Geld Allianzen, ohne dass es zu einem direkten Kampf gekommen wäre. Beide Seiten unterstützten Diktatoren und Despoten und unterwanderten die von der Gegenseite favorisierten Regime. Sie leisteten Guerilla-Armeen, Untergrundbewegungen und willfährigen politischen Machthabern verdeckte Hilfe. Die Vereinigten Staaten bekämpften im Dschungel von Vietnam den Kommunismus, während die Russen Waffen und Munition zu Amerikas Feinden in Südostasien schmuggelten. Als die Russen Afghanistan eroberten, lieferte die CIA den islamischen heiligen Kriegern für ihren Kampf gegen die Russen Waffen im Wert von Milliarden Dollar. Die Amerikaner sind also schon viel länger in Afghanistan engagiert, als sie zugeben. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, dass das Land zerrüttet wurde. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 verbarg sich Osama bin Laden in einer Höhle in Afghanistan. Im Dezember 2001 wurde sein Versteck von der US-Luftwaffe und von CIA-Kommandos massiv bombardiert. Weiner schreibt: «Die Taliban verschwanden. Bush erklärte sich zum Sieger. Und dann entkam bin Laden, die Taliban stiegen von den Bergen herunter, um zu kämpfen, der Krieg ging immer weiter, und am Ende des Tunnels lag ein schwarzes Loch.» Ein Loch, in das die Amerikaner jetzt gefallen sind.
Die Bilanz in Afghanistan heute sind mehr als 2300 tote und 20’000 verwundete Amerikaner – und ein Vielfaches an toten und verwundeten Zivilisten. «Uns fehlte ein grundlegendes Verständnis für Afghanistan – wir wussten nicht, was wir taten», zitiert Weiner den Drei-Sterne-General Douglas Lute, der unter Bush und Obama die militärischen Einsätze in Afghanistan koordinierte, «wir hatten nicht die leiseste Ahnung, was wir da unternahmen.» Präsident Bush, Vizepräsident Dick Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld kehrten 2002 Afghanistan den Rücken, um gegen den Irak Krieg zu führen. Der Grund: Erdöl. Wie in Afghanistan hatten Bush, Cheney und Rumsfeld keine Strategie für die Zeit nach dem Krieg. Am 1. Mai 2003 stand Präsident Bush an Deck des Flugzeugträgers Abraham Lincoln unter einem Banner mit der Aufschrift «Mission accomplished» – Mission erfüllt. Bush erklärte, Amerika werde dem Irak und dem Nahen Osten die Segnungen der Demokratie und des Friedens bringen. Die Generäle wussten nichts davon.
Wir wissen heute: Es ist wesentlich einfacher, mit Bomben und Gewehren Krieg in ein Land zu bringen, als den Frieden zu etablieren. Die Amerikaner sind darin im Irak, in Libyen und in Afghanistan gescheitert. Weiner zeichnet in seinem Buch mit vielen Insiderberichten nach, wie es so weit kommen konnte – und welche Rolle Wladimir Putin und sein Russland dabei spielen.
Tim Weiner: Macht und Wahn. Der politische Krieg zwischen den USA und Russland seit 1945. Aus dem Englischen von Christa Prummer-Lehmair und Rita Seuss. S. Fischer Verlag, 352 Seiten, 37.90 Franken; ISBN 978-3-10-091072-1
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