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Macht im Umbruch
Deutschland hat zwar (demnächst) eine neue Regierung, unser Nachbarland tut sich aber nach wie vor schwer damit, jene Führungsrolle in Europa anzunehmen, die ihm von Grösse und Gewicht her zustehen würde. In seinem neuen Buch beschäftigt sich Herfried Münkler mit den neuralgischen Punkten der deutschen Politik. Die Frage ist, ob es Deutschland gelingt, seine ökonomische, politische und kulturelle Macht so einzusetzen, dass ein Auseinanderfallen Europas verhindert werden kann. Damit das gelingt, sind nicht nur grundlegende Reformen nötig. Deutschland und die EU müssen sich, so Münkler, auch als widerstandsfähig gegen Russland, selbstbewusst im Umgang mit China und, falls es nötig werden sollte, als unabhängig von den USA erweisen. Münkler zeigt in seinem Buch, dass sich ein Blick in die Geschichte lohnt. Er setzt sich dafür zunächst grundsätzlich mit der Demokratie im 21. Jahrhundert auseinander und zeigt dann, warum Europa vor allem an seinen und durch seine Grenzen herausgefordert ist. Dann konzentriert er sich auf die Macht in der Mitte Europas: auf Deutschland. Ein Problem dabei: «Der Westen» ist ein fragiler Akteur der globalen Ordnung geworden. Die drei zentralen Werte, die individuellen Freiheitsrechte, die bürgerschaftlicher Politikpartizipation und die Überprüfbarkeit politischer Entscheidungen auf ihre Verfassungskonformität hin, stehen unter Druck. Alles läuft auf die zentrale Frage hinaus: Will oder kann Deutschland eine führende Rolle in Europa übernehmen?
Bis vor kurzem haben wir die Grossmächte nicht an der Grösse ihrer Armeen und dem Anteil des Wehretats am Bruttoinlandsprodukt gemessen, sondern an den Ausgaben für Wissenschaft und Forschung. Bildung und Forschungsleistung waren relevanter für die Zukunftsaussichten eines Landes als seine Investitionen in Waffensysteme. Das hat sich spätestens im Februar 2022, als Russland in die Ukraine einmarschierte, radikal geändert. Wie in den 1930er-Jahren sind die demokratischen Ordnungen weltweit im Rückzug. Selbst die EU gerät unter Druck, weil einige der Mitgliedstaaten lieber «illiberale Demokratien» sein wollen als Wächter individueller Freiheitsrechte. Grenzen sind plötzlich wieder wichtig und nicht mehr nur Hindernisse im globalen Handel.

An die «unvorhergesehene Rückkehr des Krieges nach Europa» zwischen Staaten im Kerngebiet «können und wollen sich die meisten Deutschen nicht gewöhnen», schreibt Herfried Münkler. Die einen wollen nicht, dass ein Angriffskrieg erfolgreich ist, die anderen fürchten sich vor einer Eskalation und wollen die Ukraine deshalb letztlich zur Kapitulation zwingen. Der deutsche Pazifismus, der in den 1980er Jahren die politische Landschaft prägte, habe seinen Charakter verändert: «Es ist keiner mehr der eigenen Friedfertigkeit, die ein Vorbild für andere sein soll, sondern einer, der anderen, in diesem Fall auch noch den Angegriffenen, die Kapitulation aufzwingen will, um seine Ruhe zu haben.» Abgesehen davon, dass der Pazifismus damit seine Seele verliert, werde die «angestrebte Ruhe» in einer «Welt im Umbruch» nicht mehr zu haben sein, schreibt er.
Bemerkenswert an dieser Diskussion sei vor allem das «Desinteresse der selbsterklärten ‹Friedensfreunde› an der deutschen und europäischen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts». Schon vor 100 Jahren begünstigte die Friedenssehnsucht in Europa Hitlers Weg an die Macht. Für den Diktator wurde der Wunsch nach Ruhe zur «Carte blanche», mit Hilfe der Wehrmacht «fast ganz Europa zu unterwerfen». Bemerkenswert sei heute, dass die politische Rechte für die aggressiv-militärische Politik Russlands Partei nehme und der Linken geübte Kritik an deutschen Waffenlieferungen für die überfallene Ukraine. Für Münkler handelt es sich hüben wie drüben um «umfassende Geschichtsvergessenheit, wie Arthur Schopenhauer sie vor Augen hatte, als er seinen politischen Pessimismus auf die Formel brachte, aus der Geschichte könne man nur lernen, dass die Menschen aus ihr nichts lernen würden».
In seinem Buch wirft er deshalb immer wieder einen Blick zurück auf die deutsche und europäische Geschichte, um Ähnlichkeiten und Unterschiede zur gegenwärtigen Entwicklung herauszustreichen. Münkler betont, dass es dabei nicht um Gleichsetzen, sondern um einen Vergleich gehe. «Unsere Orientierung im Alltag beruht auf einem ständigen Vergleichen, und das komparative Verfahren, wie es von den Geschichts- und Sozialwissenschaften entwickelt wurde, ist eine methodisch angeleitete Verfeinerung dieses alltäglichen Vergleichens.»
Herfried Münkler sieht Deutschland (und Europa) im Wesentlichen vor vier grosse Herausforderungen gestellt. Die erste Herausforderung ist die politisch-militärische Bedrohung durch Russland. Ganz egal, wie der Ukrainekrieg endet, Russland werde «die Europäer weiterhin mit nuklearen Drohungen unter Druck setzen, sie einschüchtern und gegeneinander ausspielen», schreibt Münkler. Es sei «naiv zu glauben, dass sich der Kreml dauerhaft mit grösseren territorialen Zugeständnissen der Ukraine im Donbass zufriedengeben wird und danach die Europäer mitsamt Deutschland wieder zum wirtschaftlichen Austausch früherer Zeiten zurückkehren können».
Die zweite Herausforderung ist die Entkoppelung der USA von Europa, die sich durch die Wahl von Donald Trump noch verstärkt hat. Denn Trump sieht sich als «Deal Maker», er habe «kein Interesse daran, sich auf längerfristig angelegte Strategien einzulassen und unter deren Einfluss politisch bindende Verpflichtungen einzugehen». Das würde die Spielräume seines «okkasionell-opportunistischen Agierens» einschränken. Die EU muss deshalb mit allem rechnen und auf eigene Beine zu stehen kommen.
Die dritte grosse Herausforderung betrifft den Umgang mit China. Münkler spricht den Import hochsubventionierter chinesischer Produkte in den europäischen Wirtschaftsraum an, insbesondere der von Elektroautos. Diese Einfuhr werde mit den von Trump angekündigten Strafzöllen auf Importe aus China noch weiter ansteigen, «da die Chinesen bestrebt sein werden, all das, was in den USA aufgrund der verhängten Zölle nicht mehr konkurrenzfähig ist, in den europäischen Markt zu pressen», schreibt er. Europa muss seinen eigenen Weg suchen und eine eigenständige wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China entwickeln, die «für beide Seiten vorteilhaft ist. Je strikter der Ausschluss Chinas vom amerikanischen Markt sein wird, desto grösser dürften die Chancen der Europäer ausfallen, die chinesische Politik in dieser weitreichenden Frage zu Kompromissen zu bewegen, da China kein Interesse daran haben kann, dass sich die EU notgedrungen der US-Strafzollpolitik anschliesst», schreibt er.
Die vierte grosse Herausforderung ist die illegale Migration: Es stellt sich die Frage, wie Europa die Migration nach Südeuropa begrenzen kann. Er schreibt, das werde «vermutlich nur mit einer niedrigstufigen Integration der Maghrebstaaten in den EU-Raum möglich». Das wiederum setze eine «energische Unterstützung durch die deutsche Politik» voraus.
Ein zentraler Punkt zum Schluss: «Die Vorstellung, es könne, wenn in der Ukraine die Waffen schweigen, alles wieder wie früher werden – die russischen Erdöl- und Erdgaslieferungen würden wieder aufgenommen und auch die politischen Beziehungen zu Russland würden schrittweise normalisiert –, hat in der politischen Realität keine Grundlage», schreibt Münkler. Dieses Rad lässt sich nicht zurückdrehen. Vor allem in Ostdeutschland träume die Bevölkerung aber genau davon. Deshalb müsse «die Politik einer Regierung der politischen Mitte» besser erklärt und verdeutlicht werden. Dabei Die deutsche Regierung müsse vor allem besser erklären, «welche Bedeutung eine stabile und handlungsfähige EU für Deutschland hat, für seine Sicherheit und seinen Wohlstand, und inwiefern eine populistische Politik die Bundesrepublik auf längere Sicht viel Einfluss und noch mehr Geld kosten wird».

Herfried Münkler beschreibt die grossen Herausforderungen, vor denen Deutschland und Europa steht, mit der Gelassenheit und der Autorität eines Gelehrten. Es ist zu wünschen, dass viele Politiker sein Buch lesen und verstehen, was auf unserem Kontinent auf dem Spiel steht.
Herfried Münkler: Macht im Umbruch. Deutschlands Rolle in Europa und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Rowohlt, 432 Seiten, 42.50 Franken; ISBN 978-3-7371-0215-5
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783737102155
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