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Liebe in Zeiten des Hasses

Publiziert am 18. November 2021 von Matthias Zehnder

Bekannt geworden ist Florian Illies mit seinem Episodenbuch «1913»: Er hat das Jahr in Form von vielen kleinen Miniaturen dargestellt, die manchmal nur wenige Sätze lang sind. Im Zentrum stehen Maler und Literaten, darunter Oskar Kokoschka und Alma Mahler,  Franz Kafka, Sigmund Freud und  Carl Gustav Jung, Rainer Maria Rilke, Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler sowie Heinrich und Thomas Mann. Im neuen Buch wendet er dieselbe Technik an und wir begegnen ähnlichen Protagonisten. Diesmal steht nicht ein Jahr im Zentrum, sondern ein Gefühl: die Liebe. Es geht um Geschichten und Episoden, die sich in der Zeit zwischen 1929 und 1939 abgespielt haben, also zwischen Weltwirtschaftskrise und Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Eine düstere Zeit – oder, wie Illies sie apostrophiert, eine Zeit des Hasses. 

Wir lernen Dietrich Bonhoeffer als eitlen Gecken kennen, Bertolt Brecht als herzlosen Schwerenöter, Albert Einstein als Poeten (beim Telegramm-Schreiben). Wir lernen Frauen kennen wie Margarete Karplus, promovierte Chemikerin, Tochter eines Weinhändlers, schön und gross und schrecklich hin- und hergerissen zwischen Bertolt Brecht, Ernst Bloch, Walter Benjamin und Theodor Adorno. Picasso wechselt seine Frauen wie seine Modelle (wobei die beiden Kategorien deckungsgleich sind). Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir philosophieren erst zusammen (sie müssen erst noch ihre Prüfungen ablegen) bevor sie sich dann endlich küssen. Henry Miller ist unglücklich, weil seine Frau June mit ihrer Geliebten im Ehebett liegt und er aufs Sofa zügeln musste. Also flüchtet er nach Paris und stürzt da erst mal gründlich ab, bevor er, fast ganz am Ende, ein neues Blatt in seine Schreibmaschine spannt und «im Wendekreis des Krebses» schreibt. Die Ehe von Erika Mann und Gustaf Gründgens wird aus recht guten Gründen geschieden. Es gebe Ehen, so sagt Thomas Mann, deren Entstehung sich auch die belletristisch geübteste Phantasie nicht vorstellen kann.

Florian Illies erzählt Geschichten im Telegramm-Stil. Etwa über Man Ray und Lee Miller: «Als sie am Gare du Nord in den Zug steigen, ist sie seine Schülerin, als sie im Abteil sitzen, wird sie sein Modell, als sie in Biarritz ankommen, seine Geliebte.» Das Buch ist gespickt mit kleinen Kommentaren. Etwa: «Der Mutterschoss ist eigentlich eine Einbahnstrasse. Aber Erich Kästner fährt gegen die vorgeschriebene Fahrtrichtung zeitlebens zurück.» Was nicht so schlimm ist. Denn: «Die Frauen brauchen die Männer nicht mehr. Das ist die für die Männer verstörende Botschaft der späten zwanziger Jahre.» Gemeinsam ist den forschen Liebenden, dass sie vor dem Gefühl zurückschrecken, weil sie es nur in Form von schmieriger Sentimentalität kennen. Das sagt Kurt Tucholsky über Erich Kästner, der schamlos seine Freundinnen zu Gedichten macht, aber es gilt auch für viele andere. Es waren keine goldenen Zeiten für die große Liebe. Es waren die Zeiten für eine «Sachliche Romanze», wie Erich Kästner es nennt: Erst teilen sie das Bett miteinander, «dann kam ihnen die Liebe abhanden, wie anderen ein Stock oder Hut». In einem anderen Gedicht schreibt Kästner: «Ich hatte Angst vor dir, weil du mich liebst.» Florian Illies kommentiert lakonisch: «So viel also zur Lage der Liebe um 1930.» Oder, wie Jean-Paul Sartre es seiner Simone erklärt: Er sei nun mal ein Genie. «Und um dies voll zur Entfaltung zu bringen, brauche er die Möglichkeit, eine freie Sexualität zu leben. Zur Stimulierung seiner Kreativität.» Aha. Obwohl: Einfach ist das nicht. Auch für Genies nicht: «Sehr kompliziert ist für Ludwig Wittgenstein eigentlich nur die Liebe. Alles andere versteht er.» Oder, wie Freud es auszudrücken beliebt: «Die Sexualität gehört zu den gefährlichsten Betätigungen des Individuums.» 

Die Kürzestgeschichten über Thomas Mann und seine Kinder, über Erich Kästner, Erich Maria Remarque, Henry Miller, Joséphine Baker, Alfred Döblin, Gottfried Benn, Kurt Tucholsky und viele andere Literaten, Schauspieler (und vor allem Schauspielerinnen), Musiker, Regisseure und andere Stars und Sternchen der Zeit sind kurzweilig zu lesen, wenn auch manchmal etwas atemlos. Illies entwirft ein Kaleidoskop der Zeit, das tiefe Einblicke in die Seele derer gestattet, die wir sonst nur von ihren Werken kennen und bewundern. Dabei platzt so mancher Lack ab, aber genau das macht die Sache aus. Manchmal sind die Häppchen etwas gar klein, sättigen nicht, sondern steigern nur den Appetit – aber es hat so viele Häppchen in dem Buch, dass dieser Hunger sich problemlos stillen lässt.

Florian Illies: Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls 1929–1939. S. Fischer Verlag, 432 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-10-397073-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783103970739

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