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Kartenland Schweiz

Publiziert am 4. November 2021 von Matthias Zehnder

Meinen Kindern muss ich manchmal erklären, wie das früher war, noch ohne WhatsApp, als man sich aus den Ferien per Postkarte meldete. Oder den Fahrweg auf einer dieser gelben Michelin-Karten suchte, die meist am dümmsten Ort einen Riss aufwiesen. In einer Zeit, als Telefone noch schwarze Kästen mit geringelten Kabeln waren, spielten Karten eine grosse Rolle. Landkarten, Jasskarten, Postkarten, Beileidskarten – die Schweiz war ein Land der Karten. Genau das ist der Ausgangspunkt des Buchs von Thomas Brückner und Benedikt Pfister: In «Kartenland Schweiz» gehen sie der Kartenvergangenheit der Schweiz nach.

Barbara Piatti erzählt in einem halbfiktionalen Text die Erinnerungen des Gebirgsvermessers und Ingenieur-Topografen Xaver Imfeld. Der Sarner war einer der berühmtesten Panoramazeichner und Reliefkünstler seiner Zeit, der Wissenschaft, Kunst und Alpinismus zu verbinden wusste.

Claudia Mäder erinnert anhand einer Postkarte, die am 11. August 1899 von Zürich nach Thal geschickt wurde, an die Geschichte der Postkarte. Sie erzählt, wie ein neues Medium entstand, aufblühte – und (fast) wieder verschwand. 

Von einer ganz anderen Karte berichtet Thomas Brückner: Sein Beitrag zu den Schweizer Karten handelt von einer Fiche, also von einer Registerkarte, auf der ein Beamter des Schweizer Staatsschutzes eine Beobachtung festgehalten hat. Fast eine Million solcher Fichen hat der Schweizer Staatsschutz von etwa 1900 bis 1990 angelegt. Die Fiche, die  Thomas Brückner beschreibt, handelt von einem Anlass der Studentenbewegung auf dem Basler Petersplatz sm 28. Juni 1968. In schon fast poetischer Genauigkeit hält der unbekannte Staatsschützer auf seiner Fichenkarte seine Beobachtungen fest und gibt Thomas Brückner genügend Anlass, über die Fichen, den Staatsschutz und die fast schon krankhafte Überwachungswut des Schweizer Staatsschutzes nachzudenken.

Noch weiter zurück reicht eine Karte, die Bernard Degen beschreibt: es ist eine Lebensmittelkarte, wie sie im Rahmen der Lebensmittelrationierung während des zweiten Weltkriegs ausgegeben wurde. Fast zehn Jahre lang, von 1939 bis 1948, erhielt in der Schweiz nur Zugang zu Lebensmitteln, wer über  Lebensmittelkarten verfügte. Es gab Brotkarten, Milchkarten, Einmachzuckerkarten, Seifenkarten – Degen schreibt, die Hausfrauen hätten gegen Ende des Krieges eine kleine Verwaltung gebraucht, um die Übersicht über all die Karten zu behalten. Degen erzählt in seinem Beitrag, wie es dazu kam, dass der Bund die Lebensmittel rationierte, welche Auswirkungen das hatte und wie sich der Alltag einer Familie mit all den Karten ausnahm.

Eine recht eigentümliche Weihnachtskarte beschreibt Marktet Ribbert: Es ist ein Weihnachtsgruss, verschickt im Kriegswinter 1917/1918. Auf der Rückseite steht die Anschrift, auf der Vorderseite ein Tannenzweigmotiv und das Wort «Papa». Kein weiterer persönlicher Gruss, nicht einmal eine Anrede. Die Karte stammt aus dem Bestand des Historischen Museums Basel, genauer: aus der Postkartensammlung der Familie Stocker-Nolte. 14 Postkartenalben mit jeweils Hunderten von Karten erlauben es, den dichten Austausch schriftlicher Nachrichten in der Familie nachzuzeichnen. Eine Art Familienchat in Zeitlupe.

Benedikt Pfister beschreibt in seinem Beitrag das Ticket eines Fussballmatches: das Ticket Nr. 20641, das zum Zuschauen des Spiels Étoile Carouge – FC Basel am 3. Mai 1994 berechtigte. Für fans des FC Basel ist das ein historisches Spiel: Der FCB gewann das Match und konnte deshalb wieder in die damalige Nationallia A aufsteigen. Die Ironie der Geschichte will es, dass der FC Basel in seinem letzten Spiel im Schweizer Cup gegen eben dieses Étoile Carouge antreten musste – und das Spiel schmählich verloren hat. 1994 war das anders: Damals ermöglichte es der Sieg gegen Étoile Carouge dem FCB, endlich wieder im Oberhaus des Schweizer Fussballs zu spielen. Heute gilt das Ticket nicht nur als Erinnerungsstück, sondern auch als Beweis dafür, als Fan dem FCB auch in schwierigen Zeiten die Liebe nicht gekündigt zu haben. 

Von ganz anderen Emotionen zeugt die Kondolenzkarte, mit der Frédéric Zwicker das Buch abschliesst: Es ist eine Beileidskarte, welche die Familie nach dem Tod von Zwickers Grossmutter erhalten hat. Eine Pflegerin schreibt in einfachen Worten ihr Beileid und ihre Anteilnahme.

Es ist ein grosser Bogen, den das Buch von der Gebirgskarte über die Postkarte, die Fiche, die Lebensmittelkarte, die Weihnachtskarte, das FCB-Ticket und die Kondolenzkarte schlägt. Gemeinsam ist den Karten, dass sie zu Postkarten aus der Vergangenheit der Schweiz werden, die viel über die Menschen und ihre Zeit erzählen – auch wenn sie nur gerade das Wort «Papa» enthalten.

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783729650688

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