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Kafkas Werkstatt
Kafkas Texte sind seit ihrer Publikation Gegenstand von Deutungen und Interpretationen. Das hat mit ihrer fragmentarischen und bildhaften Form zu tun, aber auch mit der Rätselhaftigkeit ihres Autors. Der Zürcher Literaturwissenschaftler Andreas Kilcher legt mit diesem Buch einen neuen Ansatz vor. Seine Ausgangsfrage lautet: Wie funktionieren diese Texte? Dabei geht es ihm weder um eine Deutung noch um eine Theorie zu Kafkas Schreiben. Auch Kafkas Biographie lässt er links liegen: Es geht weder um die Psyche des Autors noch um dessen existenziellen Notlagen, seine Gesundheit oder das Verhältnis zu seinem Vater, der Religion oder zu Prag. Kilcher versteht Kafka als Textarbeiter. Er untersucht dessen schriftstellerische Praxis. Sein Buch ist ein Besuch in Kafkas Werkstatt, deshalb heisst es auch so. Kilcher hat sich schlicht gefragt: Wie hat Kafka gearbeitet?
Dabei geht er von zwei Annahmen aus. Die erste: Kafkas Texte sind nicht ein homogenes Ganzes. Es ist eher eine Ansammlung von Bausteinen und Bruchstücken. Die zweite: Kafka hat im grossen Steinbruch der zeitgenössischen Literatur gearbeitet, da sind seine Bausteine entstanden. Kilcher fragt deshalb nicht nur nach dem Schreiben von Kafka, sondern auch nach dem Lesen. Kafka liest, indem er schreibt – und umgekehrt. Das ist denn auch Kilchers zentrale Frage: Wie funktioniert bei Kafka dieses Zusammenspiel von Lesen und Schreiben? In seinen Worten: «Wie funktioniert Lesen, wenn es produktiv auf das Schreiben bezogen ist? Und wie funktioniert Schreiben, wenn es aus dem Lesen hervorgeht?»
Das ist es, was Kilcher mit «Kafkas Werkstatt» meint. Kafka sei ein «höchst aufmerksamer und geradezu (wie er wiederholt sagte) ‹gieriger› Leser» gewesen, und zwar nicht nur von belletristischer Literatur, sondern auch von Sachbüchern und insbesondere von Zeitschriften zu Literatur, Kunst und Politik. Darum kreist Kilchers Untersuchung ganz besonders um die grossen Diskussionsthemen der Moderne um 1900. Themen wie die Psychoanalyse, der Marxismus, der Zionismus und der Okkultismus. Die Teilnahme an diesen zeitgenössischen Diskussionen werde am Zusammenhang von Lesen und Schreiben konkret erkennbar, sagt Kilcher. Der Zusammenhang ist allerdings oft «indirekt, verschoben, gebrochen, überlagert und verrätselt».
In der praktischen schriftstellerischen Arbeit in Kafkas Werkstatt wird gearbeitet: an und mit Sprache, an und mit Texten. Kilcher meint «Werkstatt» nicht nur bildlich. Er bezeichnet damit auch sehr konkret den Zusammenhang von Lesen und Schreiben mit seinen vielfältigen Folgen. In der Werkstatt geht es auch um Materialien und Geräte wie Papier und Stifte, um Bücher und Zeitschriften. Die Werkstatt meint aber auch die Techniken literarischer Produktion, in denen Wortarbeit und Geistesarbeit verbunden sind. «Der Werkstattbegriff impliziert insofern ein neues Verständnis des literarischen Schreibens, das ‹Poetik› nicht so sehr als Theorie, sondern vielmehr als Kunst und Technik, als Praxis, als Arbeit begreift – als Form ‹geistiger Arbeit›», schreibt Kilcher. «Der Werkstatt-Autor ist kein Erfinder, sondern ein Wort- und Textarbeiter, und die Werkstatt-Literatur ist keine Eingebung, sondern etwas Gemachtes.» Sein Buch ist deshalb ein spannender und übrigens empirisch belegter Blick über die Schultern von Kafka als Textarbeiter.
Andreas Kilcher: Kafkas Werkstatt. Der Schriftsteller bei der Arbeit. C.H. Beck, 302 Seiten, 39.50 Franken; ISBN 978-3-406-81505-8
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783406815058
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