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Ins All

Publiziert am 26. Mai 2022 von Matthias Zehnder

Am 12. April 1961 umrundete Jurij Gagarin mit dem Raumschiff Wostok in etwas mehr als 100 Minuten als erster Mensch einmal die Erde. Dieser Erfolg der sowjetischen Raumfahrt löste in den USA Panik aus. Die Welt war damals durch den Eisernen Vorhang in zwei Teile geteilt. Die Sowjetunion hatte es geschafft, die Fortschritte ihres Raumfahrtprogramms geheim zu halten. Von den Erfolgen auf dem Weltraumbahnhof in der kasachischen Steppe drang nichts nach aussen – und von den Misserfolgen schon gar nicht. Ganz anders die USA: Hier spielte sich das «Race to Space» unter dem jungen, charismatischen Präsidenten John F. Kennedy in aller Öffentlichkeit ab. Es sind, hüben wie drüben, unglaubliche Geschichten voller Dramatik, haarsträubenden Wendungen und legendären Persönlichkeiten. Die Story wirkt wie ein Drehbuch einer Netflix-Serie. Doch es ist keine Fiktion, sondern ein Stück Zeitgeschichte. Stephen Walker erzählt die Geschichte des ersten bemannten Flugs ins All neu, basierend auf schriftlichen, visuellen und mündlichen Quellen und so akkurat wie irgend möglich. Zu jeder Dialogzeile gibt es eine eigene Quelle. Trotzdem bleibt das Buch spannend wie ein Krimi und wird so zur perfekten Vorlage für eine Netflix-Serie. Oder, wie Stephen Walker selbst schreibt: Es gibt «mitunter nichts Phantastischeres als die Realität selbst – und gewiss nichts Phantastischeres als diese Geschichte des ersten Sprungs der Menschheit über den Planeten Erde hinaus.»

Heute befördern Raketen des privaten Unternehmens SpaceX routinemässig Menschen ins Weltall. Es haben sogar schon touristische Ausflüge ins All stattgefunden. In den 60er Jahren steckte die Raumfahrt noch in der Bastelphase. Die Sowjetunion arbeitete daran, Hunde sicher ins All zu schiessen und sie lebend wieder auf der Erde landen zu lassen. Bei einigen Flügen teilten sich die Hunde die Kabine der Kapsel mit einer lebensgrossen Menschenpuppe, gekleidet in einen Original-Raumanzug, wie ihn auch der echte menschliche Kosmonaut tragen sollte. Die Hunde absolvierten jeweils nur eine einzige Umrundung der Erde – mehr Umrundungen waren auch für den ersten Kosmonauten im All nicht vorgesehen. Eine einzige Erdumrundung, anschliessend Rückkehr an einen  Ort in der UdSSR. «Angesichts der Serie zuvor gescheiterter Wostok-Missionen galt es als zu riskant, mehr als eine einzige Erdumrundung zu planen», schreibt Walker. Wenn aber diese beiden Flüge erfolgreich verliefen, könnte die Mission mit einem menschlichen Kosmonauten als Nächstes folgen. Man peilte ein geheimes, wenn auch unverbindliches Datum für den März an.

Auch die USA arbeitete fieberhaft daran, einen Menschen ins All zu schiessen. Das Programm wurde gegen Ende 1958 ins Leben gerufen und hiess «Project Mercury», benannt nach Merkur, dem römischen Götterboten. Auch die Amerikaner waren von Unfällen, Explosionen und Verzögerungen nicht verschont geblieben. Anders als die Sowjets hielten die Amerikaner auch Fehlschläge ihres Programms nicht geheim. Auch die NASA war Anfang der 60er Jahre so weit, einen eigenen Testflug mit einem Tier starten zu können. Die Amerikaner schickten keinen Hund ins All, sondern einen Schimpansen. Sechs Tiere hatten sie für den Raumflug trainiert.

Die NASA gab zwar keine detaillierten Pläne darüber bekannt, wann ein Mensch ins All geschossen werden sollte, die amerikanischen Medien berichteten aber begeistert und detailliert über die Pläne der Weltraumbehörde. So konnten auch KGB-Agenten und sowjetische Raketentechniker lesen, dass dieser erste Weltraumflug mit einem amerikanischen Astronauten durchaus schon im März anstehen könnte. So kam es zum grossen «Race to Space» – mindestens die Russen wussten genau, dass sie sich beeilen mussten.

Stephen Walker versteht es, diese Spannung wiederzugeben. Sein Bericht ist zwar detailliert, er verliert sich aber nicht in den Details und schärft immer wieder den Blick für das grosse Ganze. Dazu gehört, dass es zum Zeitpunkt dieser Versuche keine 60 Jahre her war, dass die Gebrüder Wright mit ihrem aus Draht und Segeltuch gebastelten Doppeldecker ein paar Meter vom Boden abgehoben hatten. «Und jetzt sollte ein Mensch den ersten Schritt in Richtung der Sterne wagen. Er würde den Planeten hinter sich lassen, mit dem von Anbeginn an alles Leben fest verbunden gewesen war. Er würde sich in die lebensfeindlichste und gefährlichste jemals entdeckte Region vorwagen.» So weht auch ein bisschen Star-Trek-Athmosphäre durch das Buch. Packend ist die Erzählung, weil die Risiken riesig waren, die Liste der zu lösenden Probleme endlos, die Zahl der Unbekannten unendlich. «Welche Supermacht auch immer in diesem kältesten aller kalten Kriege die Nase vorn hatte, sie würde sich einen gewaltigen technologischen, politischen und ideologischen Sieg über den Konkurrenten auf die Fahne schreiben können.» Spannend!

Stephen Walker: Ins All. Die faszinierende Geschichte vom ersten Flug in den Weltraum. Hoffmann und Campe, 592 Seiten, 37.90 Franken; ISBN 978-3-455-01088-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783455010886

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