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In Putins Kopf

Publiziert am 30. Juni 2022 von Matthias Zehnder

Was geht nur im Kopf von Wladimir Putin vor? Seitdem Russland am 24. Februar die Ukraine überfallen hat, haben wir uns kopfschüttelnd diese Frage immer wieder gestellt. Viele Politiker sprechen sogar offen davon, dass Putin wohl den Verstand verloren habe. In seinem Buch zeigt Michel Eltchaninoff, dass dies keineswegs der Fall ist. Natürlich kann auch er nicht mit einem MRI in den Kopf von Putin schauen. Aber er hat Putins Reden genau untersucht und er zeigt, auf welche Denker und Philosophen sich Putin stützt. Das Resultat ist erstaunlich klar. In seinen Reden hat Putin immer wieder klar Position bezogen, den Westen kritisiert und die eigene Haltung ausgeführt. Putin habe in den letzten 20 Jahren seine Überzeugungen nicht geändert, «sondern sich in dem Masse, in dem sie sich herauskristallisierten und von neuen ideellen Bezügen profitierten, mehr und mehr getraut, sie zu äussern.» Der Blick in Putins Kopf ist atemberaubend. Das Buch zeigt, dass der Mann durchaus rational handelt – bloss auf Grundlagen, die völlig anders sind als alles, was wir gutheissen.

Anfang Januar 2014 erhalten hohe Funktionäre, Gouverneure der Regionen und Kader der Partei Einiges Russland von der Präsidialverwaltung ein besonderes Neujahrsgeschenk: philosophische Werke von Iwan Iljin, Nikolai Berdjajew und Wladimir Solowjow. Es sind Werke russischer Denker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Würdenträger schwitzen über den Texten, aber da müssen sie durch. Präsident Putin höchstselbst zitierte die Werke in seinen Reden. Im Februar 2014 müssen Funktionäre aus den Abteilungen Innenpolitik und Soziales in der Präsidialverwaltung an Vorträgen zum Thema Konservatismus teilnehmen. Mitten in diese Nachhilfestunden in Philosophie platzt die Annexion der Krim.

Kein Grund für Präsident Putin, seine «konservative Wende» aufzuschieben. Im Gegenteil. Die Philosophie ist im Russland des Jahres 2014 allgegenwärtig. Und es ist der Präsident höchstpersönlich, der diese Bewegung mit seinen Zitaten philosophischer Denker prägt. Ist Putin also ein Philosoph? «Lassen wir die Kirche im Dorf. Der Mann ist kein Intellektueller», schreibt Michel Eltchaninoff. «Er hat eher eine Vorliebe für Geschichte, Literatur und vor allem für Sport.» Putin wolle keine Staatsideologie nach sowjetischem Vorbild durchsetzen. Im programmatischen Text «Russland an der Jahrtausendwende», den er 1999 veröffentlicht hat, «grenzt er sich von der kommunistischen Vergangenheit ab». Michel Eltchaninoff schreibt: «Wladimir Putin ist schliesslich und vor allem eines: Realist. Er legt keinen Wert darauf, an irgendein ideologisches Joch gekettet zu werden.» 

Tatsächlich ist Putin von Grund auf Sowjetmensch geblieben. «Wie alle Bürger der UdSSR wurde er zu einem quasireligiösen Respekt vor den Büchern und grossen Namen der Kultur erzogen.» Eltchaninoff schreibt, weder in der Sowjetunion noch in Russland «macht man sich über die Kultur lustig». In seinem Buch zeigt Eltchaninoff die grossen Linien auf, an denen sich Putin orientiert. Das ist seine Vergangenheit als Sowjetbürger, Immanuel Kant, Peter der Grosse und die Philosophie des Judo, der russische Weg zum eurasischen Traum in did konservativ Wende. 

Detailreich schildert Eltchaninoff den Weg zum Angriff auf die Ukraine. Dabei streicht er heraus, wie scharf Putin Position gegen den Westen bezieht. Er wirft ihnen vor, dass sie eine «umgekehrte Diskriminierung» der Mehrheit im Interesse der Minderheiten zelebrieren und so grundlegende Vorstellungen «wie Mama, Papa, Familie oder sogar Geschlechterunterschiede» ablehnen. Putin ist der Überzeugung, dass die Menschen des Westens orientierungslose, verwöhnte Kinder seien. Russland dagegen sei ein erwachsenes, verantwortungsbewusstes Land, das seine Zukunft noch vor sich habe. 

Den Entscheid, die Ukraine anzugreifen, fällt Putin laut Eltchaninoff im vollen Bewusstsein, dass er damit den Interessen von Russland schaden wird. Doch Putin ist konsequent im Hinblick auf seine Vision von der Geschichte der Welt, Russlands und der Ukraine. «Der Kriegseintritt ist vorbereitet gewesen, wahrscheinlich seit Jahren», schreibt Eltchaninoff. Es ist harter Tobak, den Eltchaninoff da serviert, aber sein Blick in Putins Kopf erklärt vieles – und lässt wenig Raum für Hoffnung.

Michel Eltchaninoff: In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten. Tropen, 224 Seiten, 18.50 Franken; ISBN 978-3-608-50182-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783608501827

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