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Hemmungen und Dynamit

Publiziert am 3. November 2022 von Matthias Zehnder

An der Oberfläche sind die Lieder von Mani Matter nett, ja vielleicht sogar harmlos. Erst bei genauerem Hinhören entdeckt man viel Zündstoff darin. Nicolas von Passavant hat die Lieder und die Prosatexte von Mani Matter analysiert und das Politische daraus extrahiert. Denn Hans Peter Matter, wie Mani mit bürgerlichem Namen hiess, war ein durch und durch politischer Mensch. Er hat sich nicht nur politisch engagiert als Mitglied und zeitweiliger Präsident einer Berner Jungpartei, er hat sich als Jurist auch wissenschaftlich mit Staatsrecht beschäftigt, also mit der politischen Seite der Jurisprudenz. Später hat er als Rechtskonsulent der Stadt Bern im öffentlichen Dienst gearbeitet. Nicolas von Passavant untersucht in seinem Buch, welche Spuren das Politische im Werk von Mani Matter hinterlassen hat. Er analysiert die Chansons ebenso wie theoretische Schriften von Matter und zeigt, wie Matter vermutlich politisch tickte. Vermutlich deshalb, weil Mani Matter in seinen Liedern nie politisch explizit war, sondern sie vielmehr parabelhaft präzis auf die Probleme seiner Zeit richtete.

In seiner ersten Analyse untersucht Nicolas von Passavant die Gewaltmotivik in den Chansons von Matter. Genau besehen kommt in den Liedern von Mani Matter nämlich erstaunlich viel Gewalt vor. Die Aufführung des «Wilhelm Tell» endet in einer Saalschlacht, der Cembalo spielende Eskimo endet im Gebiss eines Eisbären, weil sich Pilot und Passagier zerstreiten, endet der Alpenflug im Absturz. «All die Stücke erzählen davon, wie sich unbemerkt schwelende Aggression unversehens Bahn bricht», schreibt Nicolas von Passavant in seiner Analyse der Lieder von Mani Matter. Brutal wirkt das trotzdem nicht, weil es zum einen freundlich vorgetragen wird und zum anderen einen Hang ins Absurde trägt.

Gerade dieses Absurde überlässt dem Publikum viel Interpretationsspielraum. Während andere politische Liedermacher wie Wolf Biermann oder auch Franz Hohler explizite Botschaften in ihre Lieder packten, bringt Mani Matter das Publikum mit Parabeln und Absurdem zum Denken. So manches mal bleibt einem dabei das Lachen im Hals stecken. Wesentlich deutlicher wird er in seinen theoretischen Schriften. In einem zweiten Schritt analysiert Nicolas von Passavant deshalb Matters Habilitationsschrift, das Cambridge-Notizheft und politische Artikel. In seiner Dissertation hat sich Matter mit der Legitimation der Gemeinde zur staatsrechtlichen Beschwerde befasst. Seine Habilitationsschrift widmet er einer eingehenden Darstellung der pluralistischen Staatslehre und damit dem Verhältnis von Einzelnem, Gesellschaft und Staat. Letztlich geht es darin um die Frage, was ein Staat ist und inwiefern die in seinem Namen ausgeübte Gewalt der Gesellschaft dient.

Das Cambridge-Notizheft enthält ein buntes Gemisch von Dichterischem und Analytischem, Exzerpten und Briefentwürfen in Dialekt, Hochsprache, Englisch und sogar in Latein. In den politischen Passagen hat von Passavant auch Ergänzungen zu den Themen gefunden, die Matter in seiner Habilitationsschrift untersuchte. Aufgabe des Staates ist es gemäss diesen Notizen nicht bloss, die Bevölkerung an politischen Entscheiden zu beteiligen, sondern in einem viel umfassenderen Sinn mit seinem Service public die Voraussetzungen für diese Beteiligung zu verbessern oder überhaupt erst zu schaffen. Mani Matter geht es zum Beispiel um ein integrales Diskriminierungsverbot, damals unter anderem noch im Hinblick auf das (noch nicht eingeführte) Frauenstimmrecht, aber auch um absolute Chancengleichheit im Bildungswesen, eine Demokratisierung der Wirtschaft, die Abschaffung des Grundbesitz-Steuerprivilegs und um eine programmatische Konzeption der Entwicklungshilfe. Einig dieser Punkte greift er später auch öffentlich auf, zum Beispiel im Vortrag «Die Schweiz seit 1945 aus der Sicht der Jugend». Der Aufsatz ist neben zwei weiteren politischen Schriften aus der Feder von Matter integral im Buch abgedruckt.

Manche der Anliegen sind ausgesprochen modern. Matters Gedanken zur Souveränität zum Beispiel oder sein Anliegen, die Wirtschaft stärker zu demokratisieren, würden sich auch im aktuellen politischen Diskurs gut ausnehmen. Im Buch geht es aber nicht nur um die Frage, wie Mani Matter politisch gedacht hat, sondern auch und vor allem darum, sein poetisches Werk durch eine politische Brille zu lesen. Das ist ungemein fruchtbar, auch wenn Mani Matter politisch so gut wie nie explizit ist. Nicolas von Passavant bezeichnet Lieder wie «Hemmige» oder «Dr Hansjakobli und ds Babettli» vielmehr als «Modelle für politische Sachverhalte»: Sie stellen politische Probleme in einem anderen Massstab dar und führen sie ad absurdum oder einer Lösung zu – oder beides. Das Buch ermöglicht es auf diese Weise, Klassiker von Mani Matter neu zu entdecken und genau hinzuhören, wenn Mani scheinbar harmlos auf der Gitarre zupft.

Nicolas von Passavant: Hemmungen und Dynamit. Über das Politische bei Mani Matter. Zytglogge, 176 Seiten, 29 Franken, ISBN 978-3-7296-5100-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783729651005

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