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Goethe. Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit

Publiziert am 2. Mai 2024 von Matthias Zehnder

An Biografien über Goethe herrscht nun weiss Gott kein Mangel. Mit «Das Kunstwerk des Lebens» hat Rüdiger Safranski uns vor gut zehn Jahren Goethe über sein Werk neu erschlossen. Was braucht es da noch eine Goethe-Biografie? Die Antwort gibt Thomas Steinfeld mit seinem Buch: Er zeichnet den Menschen Goethe in seiner Zeit. War die Biografie von Safranski vor allem ein literarisches Werk, bringt Steinfeld Zeitgeschichte, Politik und Wirtschaft mit ins Spiel. Wir sehen Goethe heute vor allem durch sein Werk. Dabei geht gerne vergessen, dass er an einer wichtigen historischen Zeitenwende gelebt hat. Goethe ist 1749 geboren und hat bis 1832 gelebt. Er hat die Französische Revolution und die napoleonischen Kriege erlebt. Als er starb, waren Eisenbahnzeitalter und Industrialisierung angebrochen. In seinem Buch zeigt Steinfeld Goethe nicht nur als Künstler, sondern vor allem als Zeitgenossen dieser Entwicklungen, als Politiker und Beamten von Herzog Carl August von Sachsen-Weimar und als universell neugierigen Gelehrten, Theaterintendanten und Publizisten. Goethe tritt aus dem riesigen Schatten, der sein Werk auf sein Leben wirft. Steinfeld macht in seinem Buch Goethe menschlich: als Kind seiner Zeit, als Politiker, als Beamter, als Intellektueller. Das ist historisch spannend und erklärt einiges.

Goethe ist längst zur Statue erstarrt, zum Weimarer Klassik-König. Aus diesem Text tritt er uns ganz neu entgegen, nicht als Dichterfürst und Grossintellektueller, sondern als Mensch im 18. Jahrhundert. Er hat selbst den Sturm und Drang ausgelöst, stand dann aber der Romantik skeptisch gegenüber. Er war Zeuge der Französischen Revolution und des Niedergangs des Ancien Régimes, reiste mit der Kutsche quer durch Europa und hat das Aufkommen der Eisenbahn miterlebt. Thomas Steinfeld bezeichnet ihn als Konservativen: Goethe will etwas Vergehendes behalten, etwas, das er kennt und schätzt, und zu diesem Zweck muss er den Blick öffnen. Er «verteidigte Überzeugungen, die er aus der Tradition übernommen hatte, er bestand auf der Treue zum Landesherrn und Fürsten, die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit blieben ihm fremd.» Steinfeld erzählt uns von einem Goethe, den ich bis jetzt nicht gekannt habe. «Sein Leben lang, von den frühen Weimarer Jahren bis zu seinem Tod, trug er sich mit Plänen, die, wären sie verwirklicht worden, zu noch weit grösseren Werken geführt hätten als zu den Bergen von Schriften, die er tatsächlich hinterliess», schreibt Steinfeld. «Unablässig entwarf er Bücher, die nie oder nur in Fragmenten geschrieben wurden.» Vielleicht hatte Goethe ADHS?

Die Literatur spart Steinfeld keineswegs aus. Aber er bettet sie ein in den zeitgeschichtlichen Kontext. «Werther» zum Beispiel ist nicht ohne eine zuverlässigePost denkbar. Steinfeld schreibt, die Post habe zu einer eigentlichen Briefkultur geführt. Jeder Brief wurde «nicht nur zum Anlass eines weiteren Briefes, also einer Antwort, sondern beförderte zugleich das Schreiben von Briefen überhaupt.» Diese Briefkultur führte zum unablässigen Austausch von «Nachrichten über Seelenzustände». «Zugleich zogen sich die Autoren und der Empfänger der Briefe zurück, in ihre Bibliotheken, in die Natur oder auch nur in eine Ecke ihrer kleinen Wohnungen. Sie brauchten die Abgeschiedenheit nicht nur, um ungestört ihren Empfindungen lauschen zu können.» Vor allem aber: «Man konnte schreiben, was man sich im direkten Gegenüber nicht zu sagen getraut hätte (was insbesondere für Liebeserklärungen gilt), und man konnte nicht unterbrochen werden.» Im «Werther» griff Goethe diese neue Briefkultur auf und schuf dabei zugleich etwas ganz Neues. Steinfeld schreibt, dass zum ersten Mal «das gelebte und das erzählte Leben einander so nahe kommen, dass man sie beinahe verwechseln könnte. Dieses Ineinander betrifft die Orte, das Personal und die Geschichte selbst.»

Interessant ist vor allem die Einordnung von Goethes Rolle in Weimar. Da gehörte Goethe zur Regierung, zuerst als Geheimer Legationsrat, dann als Geheimer Rat. Ab 1804 war er mit dem Ehrenprädikat «Exzellenz» anzusprechen. Er gehörte zur Regierung, aber nicht zum Hof. Eine wichtige Differenz. «Wieland, Herder, später Schiller, auch sie bezogen Einkommen, für die das Herzogtum aufkam, was die persönliche Treue zum Herzog einschloss. Doch keinesfalls wurden sie als Hofdichter, Hofschriftsteller oder Hofchargen bezahlt. Als freie Dichter und Theoretiker wurden sie hingegen geachtet.» Goethe stand zwischen den freien Dichtern und dem Hof. Er konnte nicht an gewöhnlichen Zusammenkünften teilnehmen, aber auch nicht mit den Adligen Karten spielen oder bei höfischen Zeremonien an der Seite des Herzogs stehen. «Was Werther widerfuhr, als er sich plötzlich in der Gesellschaft von lauter Adligen befand und dann aus der Runde komplimentiert wurde, hätte auch Goethe geschehen können», schreibt Steinfeld. Entsprechend unsicher trat er auf.

Aus heutiger Sicht stellt man sich einen Fürstenhof als konservative Einrichtungen vor, die alles Steife und Alte verkörperten. Dann kam die Aufklärung und löste die Fesseln. «Das Verhältnis von Hof und Aufklärung war aber kein Gegensatz», schreibt Steinfeld. «Die Aufklärung war nicht nur ein Mittel des bürgerlichen Aufstiegs, sondern mindestens ebenso sehr ein Instrument, dessen sich der Absolutismus zu seiner Durchsetzung bediente. Es gab Gründe, wenn die jungen Dichter und Gelehrten jener Zeit an Fürstenhöfe zogen. Manche hofften, über diesen Weg zu Autoren werden zu können. Andere suchten den Weg in die Politik, und wieder andere wollten beides. Und manche fanden auf diese Weise den Erfolg.»

In Weimar arbeitete Goethe als Beamter. Er nahm an mehr als fünfhundert Sitzungen des Geheimen Consiliums teil. Dabei wurden gut zwanzigtausend Fälle verhandelt. «An mehr als der Hälfte dieser Verhandlungen war Goethe beteiligt», schreibt Steinfeld. Er beschäftigte sich mit Landwirtschaft und Bergbau und kam so in Berührung mit der Geologie. Goethe war verantwortlich für den Wasser- und Uferausbau an der Saale. Als im März 1789 der Neubau des Stadtschlosses in die Wege geleitet und Goethe als Vorsitzender der dazugehörigen Kommission bestellt wurde, «ging es bei Weitem nicht nur um das architektonische Dekor einer feudalen Herrschaft. Der Bau war das wichtigste (und sichtbarste) Projekt in der politischen Repräsentation des Herzogtums, mit dem sich Goethe während seiner mehr als fünfzig Jahre in Weimar beschäftigen sollte.»

Und Goethe war verantwortlich für das Theater. «Was das Theater im ausgehenden 18. Jahrhundert bedeutete, ist aus heutiger Perspektive kaum mehr zu ermessen», schreibt Steinfeld. Politische Fragen wurden darin verhandelt und ästhetische Anliegen, Konflikte zwischen bürgerlichen Verkehrsformen und aristokratischen Ansprüchen, moralische Dilemmata aller Art: «Neben der Kirche und den an Zahl und Bedeutung zunehmenden politischen Zeitschriften war das Theater der Ort, an dem sich Öffentlichkeit entfaltete.» Das Schauspiel erreichte alle Menschen: Das Theater in Weimar bot fünf- oder sechshundert Zuschauern Platz und damit etwa einem Zwölftel der Bevölkerung. Steinfeld schreibt, dass da «Verhältnisse wie in der antiken Polis» herrschten. «Dieses Theater war zwar vom Hof abhängig, und es wurde für den Hof gemacht. Doch viele Aufführungen waren der Allgemeinheit zugänglich. Man spielte vor gemischtem Publikum, die Bürger waren oft in der Mehrzahl.»

Es sind Einordnungen dieser Art, die das Buch lesenswert machen. Steinfeld berichtet auch über die Entstehung der literarischen Werke, im Vordergrund steht aber Goethes Leben als Beamter, als Intendant, Universalist und Gelehrter. Etwa seine Rolle beim Aufbau der Universität Jena, die Bezüge zu Kant und seine Kritiken, die naturwissenschaftlichen Arbeiten. Goethe war aus heutiger Sicht ein Universalgelehrter und Sammler. Im Lauf der Jahrzehnte verwandelte Goethe sein Haus in einen «Comptoir zur Verwaltung und Verarbeitung von Nachrichten aus Wissenschaft und Kunst, eine Wohnung, einen enzyklopädischen Arbeitsplatz für sich selbst und vor allem ein privates Museum. Dessen reiche Ausstattung diente in erster Linie der Vermittlung und der Vergegenwärtigung», schreibt Steinfeld.

Es ist spannend zu lesen, wie Goethe sich mit den Entwicklungen seiner Zeit schwer tut. Mit der Revolution in Frankreich, mit Kant, mit seinem Fürsten und mit Schiller. Thomas Steinfeld ermöglicht es uns mit seinem Buch, tief in Goethes Zeit einzutauchen. Faszinierend.

Thomas Steinfeld: Goethe. Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit. Rowohlt, 784 Seiten, 51.50 Franken; ISBN 978-3-7371-0059-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783737100595

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Mein Sachbuchtipp der Woche: «Goethe. Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit» von Thomas Steinfeld