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Frieden oder Krieg

Publiziert am 17. März 2022 von Matthias Zehnder

Es ist ja auffallend, wie viele Russland-Experten es plötzlich in den Medien gibt und wieviele von ihnen schon lange gewusst haben wollen, dass man Putin nicht trauen kann. In diesem Buch erzählen zwei echte Kenner von Russland über das Land und seine Geschichte: In abwechselnden Kapiteln schildern der langjährige ARD-Moskau-Korrespondent Fritz Pleitgen und der russische Schriftsteller Michail Schischkin ihre Erfahrungen mit Russland. Pleitgen arbeitete von 1970 bis 1977 als Auslandskorrespondent in Moskau. Er führte als erster westlicher Journalist ein Interview mit dem damaligen sowjetischen Generalsekretär der KPdSU Leonid Breschnew. Er schildert in auch unterhaltsamen Anekdoten das Funktionieren der Sowjetunion. Michail Schischkin ist in Moskau geboren und hat da Germanistik und Anglistik studiert. Er heiratete eine Schweizerin und lebt und arbeitet seit 1995 als Schriftsteller in Zürich. Seine Beiträge im Buch sind packend: Er beschreibt Russland als Staat der Lügen, als Land, das von Schurken gekapert worden ist. Es sind Sätze, die beinhart und frei von jeder Sentimentalität die Realität in Russland schildern. Etwa: «In der Sowjetunion gehörte alles dem Volk – der Verfassung nach. In Wirklichkeit gehörte uns gar nichts. Niemandem gehörte etwas. Stattdessen waren alle Menschen Eigentum des Staates und die, die uns regierten, bloss die Sklavenaufseher und selbst Sklaven des Systems.» Das Buch ist glaubwürdig, weil die beiden Autoren selbst erlebt haben, wovon sie schreiben – und weil es schon 2019 erschienen ist, als der Krieg in der Ukraine noch nicht absehbar war. Die Aussichten, die sie zeichnen sind düster und sie werden es, trotz aller Sanktionen, bleiben. Schischkin schreibt: «Wohlstand des Volkes bringt den Machthabern im Kreml nur Probleme. Hungernde kümmern sich ums tägliche Brot und demonstrieren nicht für einen Systemwechsel.» Wer verstehen will, was hinter dem Krieg von Putin steckt, muss dieses Buch lesen. 

Hätten wir das Buch doch früher gelesen. Wir hätten besser verstanden, was sich da vor unseren Augen abspielt. Schischkin schreibt zum Beispiel, was man in Russland unter dem Staat versteht: «Die Macht und das Territorium. Und beide sind sakral. Im Westen ist der Bürger Mitinhaber des Staates, in Russland ist er sein Leibeigener, unabhängig davon, welches Schild der Staat an seiner Pforte aufhängt.» Es sind Sätze wie Hammerschläge. Und wohlgemerkt: Sie sind lange vor dem russischen Überfall auf die Ukraine geschrieben worden. Macht und Territorium – und beide sind sakral. Das erklärt, warum Putin im 21. Jahrhundert mit Panzern Krieg führt. 

Es erklärt auch, warum Putin 2005 erklärte, der Untergang der Sowjetunion sei die «grösste geopolitische Katastrophe» des 20 . Jahrhunderts. Schischkin schreibt: «Während das Ende der Sowjetunion in den USA und in Westeuropa als Triumph der Freiheit und Demokratie interpretiert wurde, war es für die Mehrheit der Russen eine ungeheure menschliche und soziale Katastrophe.» Putin habe mit dem Satz «den meisten Russen aus dem Herzen» gesprochen.

Die zum Teil anektoditschen Rückblicke von Fritz Pleitgen lockern die düstere Sicht von Schischkin etwas auf und machen es uns möglich, eine weitere Perspektive auf den Staatsapparat zu werfen. Beide machen sie deutlich, dass wir Russland im Westen wohl gründlich missverstanden haben. Schischkin schreibt, der russische Staat könne Gesetze, Verfassung, Menschenrechte und irgendwelche Freiheiten proklamieren, «Russland lebte und lebt nur nach einem Gesetz, und zwar nach dem Gutdünken der uneingeschränkten Macht des Kremls. Deshalb können die, die mein Land regieren, es einfach nicht verstehen, warum zum Beispiel England tschetschenische Separatisten nicht an Russland ausliefert. In ihrem Weltbild wäre die Sache durch einen Anruf des britischen Premierministers an den zuständigen Richter erledigt.». Er macht deutlich, dass Putin den russischen Staat führt wie ein Pate die Mafia. 

Das wird besonders deutlich, wenn er über die Bedeutung der Lüge schreibt: «Wenn Putin in seinem eigenen Land die Unwahrheit erzählt, wissen alle, dass er lügt, und er selbst weiss, dass es alle wissen, doch seine Wählerschaft ist mit seinen Lügengeschichten einverstanden. Die russische «Wahrheit» ist eine never ending Lüge.» Etwa die Lüge, dass es auf der Krim keine russischen Soldaten gebe. Der Westen habe das nicht verstanden und sich gefragt, wie Putin sein eigens Volk so unverfroren belügen konnte. «Doch die Bevölkerung nahm das nicht als Lüge wahr: Wir verstehen unter uns doch alles, man betrügt schliesslich den Feind, das ist keine Sünde, sondern reine Soldatentugend.» Es ist wohl dieselbe «Soldatentugend», mit der Putin heute verneint, dass Russland die Ukraine überfallen oder ein Theater voller Zivilisten in Mariupol bombardiert habe. Schischkin schreibt: «Russland ist in die sowjetischen Zeiten der totalen Lüge zurückgekehrt.»

Damals, in der Sowjetzeit, habe der Staat im Fernsehen freudig über die Erfüllung der Fünfjahrespläne berichtet, «doch die Regale in den Geschäften wurden fortwährend leerer und die Schlangen davor grösser.» Die Russen hätten im dem Land gelebt, «in dem der Sozialismus gesiegt» hatte, in dem nach dem Gesetz alles dem Volk gehörte, doch in Wirklichkeit besass das Volk nichts. «Und überhaupt gehörte niemandem etwas. Wir lebten in diesem aussergewöhnlichen Land voller Sklaven, in dem alle dem System gehörten. Auch diejenigen, die uns anführten.» Man dürfe, schreibt Schischkin, «diese Lüge nicht einmal als verwerflich bezeichnen, denn in ihr konzentrierten sich die ganze Kraft der Vitalität und die Stärke des Überlebensdrangs. Der Überlebenswille im Straflager namens Russland, hinter Stacheldraht, verlangt von einem Menschen bestimmte Qualitäten, der Aufbau seiner Psyche verändert sich. Das hat Folgen, besonders, wenn diese Qualitäten zum Überleben von einer Generation an die nächste weitergereicht werden.»

Daher rührt laut Schischkin ein gravierendes Missverständnis unter den führenden politischen Kreisen im Westen, wenn es um Russland geht. Die Medien und Politiker versuchen das Regime in Moskau nach seinen Worten und seinen Erklärungen zu beurteilen und versucht, aus den Äusserungen von Putin und anderen Funktionsträgern wichtige politische Schlussfolgerungen zu ziehen. «Diese Erklärungen bedeuten jedoch übersetzt: Wir lügen, und ihr wisst das, und doch werdet ihr unsere Lüge fressen müssen.» Der Westen beurteile die russischen Machthaber nach ihren Worten – «man darf sie aber nur nach ihren Taten beurteilen.» Der Staat habe sich in Russland wie eine Besatzungsarmee eingerichtet.

Im Buch wünscht sich Fritz Pleitgen ein besseres Verhältnis des Westens zu Russland. «Was empfiehlt der Verstand für Russland?», fragt Pleitgen und antwortet: «Pressefreiheit und ein unabhängiges, starkes Justizwesen.» Und was ist das Gebot der Vernunft für den Westen? «Ein Wirtschafts- und Sicherheitssystem für ganz Europa – mit Russland inklusive».

Schischkin ruft den Westen vor allem dazu auf, sich nicht mehr von den kriminellen Geldern der Oligarchen kaufen zu lassen. Etwas, was durch die Sanktionen überraschend schnell Realität geworden ist. Seine Hoffnungen für Russland sind zwiespältig. Es stimme einfach nicht, schreibt er, «dass der Russe für die Demokratie nicht geeignet ist. Die Russen können genauso wie alle anderen Völker in einer demokratischen Gesellschaft leben. Der Beweis dafür sind Millionen russischer Emigranten, die im Westen leben und sich nicht nur den demokratischen Normen problemlos anpassen, sondern es oft durch ihre Begabung und Arbeitsfähigkeit sehr weit bringen.» Die Frage sei, wann ein Ereignis so einschneidend sei, dass die russischen Massen erwachen. Vielleicht haben wir diesen Punkt ja mittlerweile erreicht.

Fritz Pleitgen, Michail Schischkin: Frieden oder Krieg. Russland und der Westen – eine Annäherung. Ludwig Buchverlag, 384 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-453-60581-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783453605817

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