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Fleisch. Weshalb es die Gesellschaft spaltet

Publiziert am 9. Juli 2021 von Matthias Zehnder

Gleich vorweg: Seit «Eine kurze Geschichte der Menschheit» von Yuval Noah Harari habe ich kein so spannendes und kluges Buch über die Menschwerdung gelesen wie dieses Buch des österreichischen Historikers Ilja Steffelbauer. Sein Ausgangspunkt ist die gegenwärtige Debatte um den Fleischkonsum: Einerseits haben wir noch nie so viel Fleisch produziert und konsumiert wie heute, andererseits ist Fleisch noch nie auf so starke Ablehnung gestossen. Steffelbauer reflektiert die gegenwärtigen Debatten über Fleischkonsum, indem er uns tief in die Vergangenheit des Menschen entführt, und die «uns heute fremd und exotisch erscheinenden Kulturen in unserer eigenen Vergangenheit, deren Traditionen und Überreste uns jedoch immer noch begleiten.» Er blättert zurück in die zeit der frühen Hominiden und fragt: Wie ist es dazu gekommen, dass diese Affen begannen, Fleisch zu essen? Eine interessante Beobachtung lässt sich an heutigen Affen machen: Je mehr wertvolle Eiweisse und Fette eine Nahrungsquelle verspricht, desto mehr Grips setzen die Affen ein, um an die Nahrung zu kommen. So nutzen Schimpansen Werkzeuge, um Termiten aus ihrem Bau zu holen und sie stimmen sich in der Gruppe ab, um Wild zu jagen: «Jagd ist ein gemeinschaftlicher Prozess, der ein hohes Mass an Koordination in der Gruppe erfordert und zusätzlich zur Schaffung von sozialen Beziehungen durch die anschliessende Verteilung der Beute beiträgt.» So könnte es ausgerechnet die Jagd gewesen sein, die am Anfang der Menschwerdung stand, weil sie die frühen Hominiden mit den für den Gehirnaufbau nötigen Proteinen versorgte und gleichzeitig Kommunikation (also Sprache) und intelligente Koordination erforderte. Anders gesagt: Die Jagd erfordert ein gut funktionierendes Gehirn, gleichzeitig liefert erfolgreiche Jagd effektiv jene Substanzen, aus denen man ein solches Gehirn baut. Weil Primaten keine Klauen bewaffneten Raubtiere sind, brauchen sie dieses Gehirn in erster Linie, um sich mit anderen Primaten zu koordinieren. «Es ist die soziale Kompetenz, die den erfolgreich jagenden Primaten ausmacht. Und erfolgreiche Jagd führt zur Verdichtung sozialer Beziehungen innerhalb der Primatengruppe, da durch die Jagdbeute eine wertvolle Nahrungsressource punktuell zugänglich wird, die so etwas wie Verteilung überhaupt erst notwendig macht.» Kurz: Am Anfang des Menschen stand die Jagd. 

Uns anatomisch moderne Menschen gibt es seit etwa 300’000 Jahren, grob 290’000 davon waren wir Sammler und Jäger. «Entgegen der noch immer populären Vorstellung vom primitiven Steinzeitmenschen, der beständig auf der Suche nach Nahrung ein elendes Dasein in kalten Höhlen fristete», wissen wir heute , «dass die steinzeitliche Jäger – und Sammlergesellschaft die erste Überflussgesellschaft war.» Unsere jagenden und sammelnden Vorfahren mussten nur etwa vier Stunden am Tag Nahrung suchen und jagen. Den Rest der Zeit konnten die frühen Menschen die Welt geniessen – es war das sprichwörtliche Leben im Paradies.  

Diese frühen Menschen hätten glücklich und friedlich bis ans Ende ihrer Tage gelebt – wäre da nicht die Idee des Ackerbaus aufgekommen. So kam es zum Ur-Konflikt, wie er in der Bibel als Konflikt zwischen Kain, dem Bauern, und Abel, dem Hirten, beschrieben wird. «Gemeinsam und oft im Konflikt miteinander machen sie sich auf den Weg in das agrarische Zeitalter, in dem sich der Mensch im Schweisse seines Angesichts sein Brot schaffen muss und bald in das Scheinwerferlicht der Geschichte tritt.» Jäger und Sammler hatten kaum Besitz, weil sie es nicht nötig hatten. Bei Bauern ist das anders. So führte die Entdeckung des Ackerbaus zu ganz neuen Erfindungen: «Mit Städten und Mauern, Königen und Priestern, Kriegen und Raubzügen, Sklaverei und Handel, Architektur, Astronomie, Schrift, Poesie, Mythen, Speisetabus, Göttern und Imperien, alles Erfindungen von Leuten, die in erster Linie Grassamen kauten; auf die Leute, die in erster Linie Fleisch assen, nie gekommen wären.» Diese sogenannte «Zivilisierung von Sammler- und Jägervölkern» sei «ein einziger Pfad der Tränen», schreibt Steffelbauer. «Sie ist voll von tragischen Geschichten, in denen sich diese Menschen dagegenstemmten, ihrer Lebensweise beraubt zu werden.»

Ein interessanter Hinweis darauf ist die Körpergrösse. Sammler und Jäger waren um einiges grösser als die auf sie folgenden Ackerbauern. Steffelbauer zeigt anhand einer Reihe von Studien und Indizien, «dass der Übergang von einer fleischbasierten Lebensweise der Jäger und Sammler zu einer vorherrschend vegetarischen der Ackerbauer kein Fortschritt für die Gesundheit und das Wohlbefinden der betroffenen Bevölkerungen darstellte.» Freiwillig erfolgte der Wandel nicht: «Die Ackerbauern und ihre unfreiwillig überwiegend vegetarische Mangelernährung setzten sich durch, weil ihre Gesellschaften zahlreicher, aggressiver und besser organisiert waren.»

Als «Mangelernährung» bezeichnet Steffelbauer die Ernährungsweise der Ackerbauern, weil sie sehr einseitig war. Es mangelte den grösseren Teil des Jahres an frischen Früchten und frischem Gemüse – und an Eiweiss. Fleisch spielte dabei eine sehr untergeordnete Rolle. Das löste sogar genetische Anpassungen des Menschen aus. So entwickelten Hirtenvölker die Möglichkeit, Milch zu  metabolisieren – was übrigens dazu führte, dass die Menschen in den Alpen der Schweiz schon früh mit guter Körpergrösse gesegnet waren. Sie hatten Zugriff auf eine tierische Eiweissquelle. Und das wieder führte dazu, dass unsere Vorfahren in ganz Europa als Krieger Karriere machten. Die Milch also ist schuld an der päpstlichen Schweizergarde.

Es sind solche unverhofften Zusammenhänge, die das Buch von Ilja Steffelbauer zu einer ebenso vergnüglichen wie lehrreichen Lektüre machen. Und die Moral von der Geschichte? Sollen wir nun Fleisch essen oder nicht? Das Problem, sagt Steffelbauer, ist nicht das Fleisch, sondern der Überfluss. Und der führt zu ganz neuen Formen von Speisetabus – Verzicht als ökonomisch erschwingliche Form der Identität und der Abgrenzung. Ein wirklich spannendes Buch.

Ilja Steffelbauer: Fleisch. Weshalb es die Gesellschaft spaltet. Brandstätter, 216 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-7106-0507-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783710605079

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