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Fenster ins Gehirn

Publiziert am 2. Juni 2022 von Matthias Zehnder

Die Gedanken des Gegenübers lesen zu können, das ist wohl eine der ältesten Sehnsüchte der Menschheit – und zugleich eine der ältesten Befürchtungen. Langsam und in kleinen Schritten scheint die Wissenschaft der Realisierung des Traums (oder der Alptraums) näher zu kommen. Dem amerikanischen Neurowissenschaftler John-Dylan Haynes ist es jedenfalls gelungen, verborgene Absichten in den Hirnen seiner Probanden zu entschlüsseln. Daraus ergeben sich schwierige Fragen: Wie sicher sind unsere Gedanken? Lassen sich Gehirne irgendwann auslesen wie Festplatten oder Speicherstifte? Lassen sich die Gedanken in unseren Gehirnen gezielt beeinflussen, zum Beispiel um uns dazu zu bringen, bestimmte Produkte zu kaufen? Und die Kardinalsfrage: Haben wir einen freien Willen oder sind wir durch unser Gehirn vorherbestimmt? Ein spannendes Buch, das nicht nur viel über die Technik des Gedankenlesens verrät, sondern vor all auch darüber, wie unser Oberstübchen funktioniert.

John-Dylan Haynes ist Psychologe und Neurowissenschaftler. Er ist Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging (BCAN) und Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience (BCCN) der Charité in Berlin. Er gilt als Pionier des neurowissenschaftlichen Gedankenlesens. Matthias Eckoldt hat Philosophie, Germanistik und Medientheorie studiert und beschäftigt sich schon lange mit Gehirn und Geist. Gemeinsam haben die beiden dieses spandende Buch über den Prozessor zwischen unseren Ohren vorgelegtm, der viel komplizierter und leistungsfähiger ist als alles, was bisher aus Silizium gebaut worden ist.

Die Welt staunte, als Facebook 2017 ankündigte, die Firma werde künftig Gedankenlesen. Inzwischen hat Facebook die Firma CTRL-Labs aufgekauft, die per Gedankenkraft Geräte steuern will. Auch Tech-Milliardär und Tesla-Gründer Elon Musk will Gedanken zu lesen: Er will ein Netz aus künstlicher Intelligenz direkt mit dem menschlichen Gehirn verbinden. Musk behauptet, demnächst könne man den gesamten Geist des Menschen digital verfügbar machen. Man könne mit Gedankenkraft Computerspiele spielen und sogar seine Erinnerungen herunterladen. Die grosse Frage dahinter ist die Frage nach dem Zusammenhang von Hirnaktivität, die sich über Elektroden messen lässt, und dem Inhalt dieser Aktivität: inwiefern lässt sich von Hirnströmen auf den Inhalt schliessen?`

Gedankenlesen ist ein alter Traum der Menschheit. Bei allem wissenschaftlich-technologischen Fortschritt basierten die Versuche, in die menschliche Gedankenwelt einzudringen, bis ins 20. Jahrhundert hinein auf kruden Vorstellungen. Erst zu Beginn der 2000er-Jahre schien das Thema Gedankenlesen durch neue Entwicklungssprünge in der Hirnforschung machbar zu werden: Hirnscanner ermöglichten es, dem Gehirn beim Denken zuzuschauen. Zum ersten Mal konnten Forscher mithilfe von Computern die bunte Erlebniswelt unseres Bewusstseins aus Hirnaktivitätsmustern auslesen – wenigstens bis zu einem gewissen Grad.

Allerdings muss gleich eingeschränkt werden: Unter Gedanken versteht die Hirnforschung nicht nur das bewusste, innere reden, also das, was wir gemeinhin als «Gedanken» bezeichnen. Vielmehr geht es letztlich um alles, was in irgendeiner Weise in unser Bewusstsein dringt, also alles, was wir erleben – egal ob wir wach sind oder träumen. Bewusste Wahrnehmungen ebenso wie alle Arten von Gefühlen sowie Erinnerungen und Absichten, Handlungspläne und natürlich die sprachlichen Gedanken. Bei Lichte betrachtet herrscht in so einem Kopf ein ziemliches Durcheinander. Entsprechend schwierig ist es, aus der vielschichtigen Denkerei etwas konkretes herauszulesen. Eine Leistung des Buches ist es, dieses Durcheinander fassbarer zu machen und auseinanderzudröseln. Und das nicht nur im Text, sondern auch in vielen, gut verständlichen Illustrationen.

Dieses Buch beschäftigt sich mit dein Möglichkeiten und Grenzen des sogenannten Gehirnlesens, des Brain-Readings. Die Autoren zeigen, welche Techniken für eine Hirn-Computer-Schnittstelle tatsächlich infrage kommen. Sie begeben sich auf die Suche nach der «Sprache des Gehirns», also jenem geheimnisvollen Code, mit dessen Hilfe unsere graue Masse die ganze Erlebniswelt codiert, vom romantischen Erlebnis bis zu den Nachrichten und den geheimen Wünschen, die wir hegen. Die beiden Autoren prüfen dabei auch, ob durch das Brain-Reading der freie Wille wirklich infrage gestellt ist, wie das oft behauptet wird – und im Film und in Romanen auch mehrfach dargestellt wurde.

Denn die Realität hinkt hinter den Erwartungen der Öffentlichkeit und den fiktiven Vorstellungen weit hinterher. Die beiden Autoren stellen deshalb dar, was heute wirklich und konkret möglich ist und wo die Herausforderungen, die Stolpersteine und vielleicht sogar die prinzipiellen Grenzen der Hirnforschung liegen. Das ist, verglichen mit den fiktiven Höhenflügen, manchmal ernüchternd, aber immer noch spannend. Brain Reading ist heute noch weitgehend auf das Labor beschränkt. Es sind noch viele Hindernisse zu überwinden, bis die revolutionäre Technik des maschinellen Gedankenlesens unsere Alltagswelt erreicht.

John-Dylan Haynes, Matthias Eckoldt: Fenster ins Gehirn, Matthias Eckoldt: Fenster ins Gehirn. Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann. Ullstein, 304 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-550-20003-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783550200038

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