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Essen

Publiziert am 6. Oktober 2025 von Matthias Zehnder

«Das Leben lesen» heisst eine Reihe von Hanser Berlin, die sich den wichtigsten Tätigkeiten des Lebens widmen: dem Arbeiten, dem Wohnen und dem Schlafen etwa. Jetzt hat sich Alina Bronsky dem Essen angenommen. Die Buchhandlungen sind voll von Büchern über Kochen, Braten und Backen – warum braucht es in der Reihe ein Buch über das Essen? Weil Kochbücher dazu anleiten, in Zukunft etwas zum tun, während Bücher über das Essen (wenigstens dieses Buch) Reflexionen über die Vergangenheit sind. Alina Bronsky schreibt: «Jeder Mensch könnte ein Buch über Essen schreiben, das genauso einzigartig wäre wie sein Fingerabdruck. Selbst eine unvollständige kulinarische Biografie wäre aussagekräftiger als jeder noch so lückenlose Lebenslauf.» Ihre eigene, höchst subjektive Erzählung handelt von Porridge, Schokolade, Eintöpfen und der Napoleon-Torte. Eine subjektive – und höchst intime Angelegenheit: «Den eigenen Kühlschrank für andere zu öffnen, kann manchmal mehr Überwindung kosten, als jemanden ins Schlafzimmer, an den Medikamentenschrank oder an die Dokumentenschublade zu lassen», schreibt Alina Bronsky. Spannend macht ihr Buch auch, dass sie 1978 im russischen Swerdlowsk geboren ist und erst seit den frühen 1990er Jahren in Deutschland lebt. Entsprechend spielt in ihren Kindheitserinnerungen an Essen (wobei Essen immer mit Kindheitserinnerungen zu tun hat) Borschtsch eine zentrale Rolle. Das sei nicht einfach ein Kürbis, den man kurz koche, um ihn dann püriert «hungrigen Menschen mit Croutons als vollwertige Mahlzeit» unterzujubeln. Borschtsch sei «etwas Grosses und Mächtiges», eine «kulinarische Reifeprüfung»: «Wenn man aus Osteuropa kommt, muss man da nicht lange suchen. Der Rest der Welt geht sowieso davon aus, dass man sich fast ausschliesslich von Borschtsch ernährt. Was soll ich sagen: Es stimmt.» Alina Bronsky schreibt über Porridge und Heimweh, Inspiration durch Kaffee, Trost durch eine Stulle und paradiesische Johannisbeeren. Jeden Kapitel ist ein kleines Rezept angehängt, das es möglich macht, ihre kulinarischen Erinnerungen zu eigenen Erlebnissen zu machen.

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Eigentlich wollte Alina Bronsky nur gerade in einem Kapitel in Erinnerungen an ihre Kindheit schwelgen. Das hat nicht geklappt: In allen Kapiteln ist von der Kindheit die Rede. «Es ist mir einfach so passiert», schreibt sie. «Viele Menschen haben ihre ersten Lebensjahre als einen Rausch der Sinne in Erinnerung. Alles schmeckt, duftet und klingt besonders intensiv, oft auch: besonders gut.» Das gilt wohl ganz besonders für Menschen, die keinen Zutritt mehr haben zum Land ihrer Kindheit: «Welchen kulinarischen Faden auch immer ich aufgenommen habe: Als würde ich jenem magischen Wollknäuel folgen, der in russischen Märchen einem Ivan oder einer Wassilissa auf ihrer Sinnsuche den richtigen Weg weist, schritt ich unbewusst die Spur ab und landete jedes Mal zuverlässig in der Kindheit.»

Dabei ist sie in der Wahl ihrer Zutaten so pragmatisch wie international. Zum Beispiel bei den Haferplätzchen, die sie als transportable Form von Porridge schätzt: «Von den Schweden kommen die gemahlenen Nüsse, von den Amerikanern das Natron und die bauchige Form.» Und von den Russen, darf man Anfügen, die Liebe zum Porridge. Ihre Kochanleitungen sind ebenso inspirierend wie ungenau. Beispiel Borschtsch: «Wenn das Ganze anschliessend auf winzig kleiner Flamme vor sich hin simmert, kann man den Timer auf zwei bis drei Stunden stellen, in der Zwischenzeit ein Romankapitel schreiben oder die Welt retten. Man wird erst wieder gebraucht, wenn das Fleisch sich von den Knochen löst.» Ohnehin findet sie, Rezepte seien etwas, was man sich selber aneignen müsse: «Finden Sie sorgfältig Ihren eigenen Lebenseintopf, denn anders als bei Ehen bleibt man dieser Wahl meist ein Leben lang treu.»

Nicht nur bei Borschtsch scheint ihre Herkunft durch: «Bis meine Familie nach Deutschland kam, hatte Zucker keine grosse Rolle in meinem Leben gespielt. Das Angebot war von der sowjetischen Mangelwirtschaft geprägt und entsprechend limitiert. Schokolade existierte hauptsächlich in hübschen Pralinenschachteln, die zu festlichen Anlässen eher weiterverschenkt als tatsächlich konsumiert wurden.» Zucker (in gigantischen Menschen) wurde nur «dem nationalen Hobby des Marmeladeneinkochens» geopfert. Weil in ihrer Familie die häufigsten Sorten «Sanddorn und Schwarze Johannisbeere» waren, habe die Konfitüre ihr «Kinderherz nicht gerade höherschlagen» lassen.

In ihrem Buch verwebt Alina Bronsky ihre Biografie und generelle Beobachtungen zum Aufwachsen auf faszinierende Art mit Kulinarik, Essgewohnheiten und Erinnerungen an Gerüche: «Wer als Teenager den Subkontinent, die Zeitzone und das Alphabet gewechselt hat, hat zwei Möglichkeiten. Man kann alles Neue ablehnen. Man kann aber auch versuchen, sich der Umgebung so anzupassen, dass einem das Anderssein nicht allzu schnell angesehen wird. Ich entschied mich für die zweite Variante und bin damit recht weit gekommen.» Sie habe die untergegangene Sowjetwelt ihrer Kindheit nicht vermisst: «Nie wieder wollte ich auf den freien Zugang zu Bananen, Jeans, Cheeseburgern, Bürgerrechten und den (damals noch) verlässlichen Behördenterminen verzichten.»

Wie wichtig Essen und die Erinnerungen daran für die meisten Menschen sind, merkte Alina Bronsky beim Schreiben: «Schon die Ankündigung des Themas führte dazu, dass Menschen ins Erzählen kamen. Sie erinnerten sich an Lieblingsspeisen aus ihrer Kindheit, sie stöhnten über die Mühen der täglichen Küchenarbeit, sie schwärmten von kulinarischen Reiseerlebnissen und berichteten von aktuellen Favoriten ihres Familienspeiseplans.» Auch wenn sie ihre Gesprächspartner kaum kannte, sei es beim Erzählen schnell persönlich geworden: «Einigen traten spontan Tränen in die Augen. Und jedes Mal war ich dankbar dafür, dass ich genau dieses Buch schreiben und mich dafür an Dinge erinnern durfte, die ich längst vergessen oder verdrängt hatte.»

Dabei lässt sie allen kulinarischen Perfektionismus aussen vor. In diesem Buch geht es nicht um das Abwägen von Zutaten, den richtigen Zimt oder die präzise Kaffeeröstung. «Es ist nicht schwer, durchkomponierte Rezepte und Hochglanzfotos zu finden.» Alina Bronsky hat die Auswahl der wichtigsten Speisen ihres Lebens nach ganz anderen Kriterien getroffen. Sowieso koche sie selbst fast nie nach genauer Anleitung. Das Aufschreiben der Rezepte sei deshalb «eine der grösseren Herausforderungen» gewesen.: «Ich musste mich durch Notizen auf Zeitungsrändern, vergilbte Ausschnitte, Rückseiten von Kassenbons und den einen oder anderen Chat kämpfen, um manche Speisen so rekonstruieren zu können, dass andere Menschen damit etwas anfangen können.»

«Essen und alles drum herum kann auch ärgern, quälen und nerven. Manchmal ist dieser Aspekt sogar der wichtigere der Geschichte.» Sie könne sich deshalb vorstellen, dass «viele Leserinnen und Leser bei der Lektüre von manchen Kapiteln irritiert sein werden, weil das Beschriebene in ihrem Leben eine ganz andere Rolle spielt.» Andere dürften überrascht sein, «dass wir eine so persönliche Erfahrung teilen.» Denn Essen, das lehrt spätestens dieses Buch, ist gleichzeitig universell und höchst individuell. Das macht die Auseinandersetzung damit so spannend.

Alina Bronsky: Essen. Hanser Berlin, 112 Seiten, 29.50 Franken; ISBN 978-3-446-28152-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446281523

Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/

Basel, 06.10.2025, Matthias Zehnder

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