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Eine (sehr) kurze Geschichte des Lebens
Der langjährige Nature-Chefredaktor Henry Gee erzählt in diesem Buch auf ebenso spannende, wie unterhaltende Weise die Geschichte des Lebens auf der Erde. Sein Buch beginnt mit der Entstehung des Universums, den Abschluss bildet ein geradezu atemberaubender Ausblick auf die nächsten rund eine Milliarde Jahre der Erde. Sprachmächtig beschreibt Henry Gee, wie zwischen diesen beiden Extremen das Leben entstand und sich entwickelte. Er hebt dabei nicht ab in eine Wissenschaftssprache, sondern bleibt gut verständlich und versteht es seine Leser:innen mit seiner Begeisterung über die Natur anzustecken. So schreibt er über die ersten Bakterien: «Jede für sich genommen ist winzig. Auf den Kopf einer Stecknadel würden mehr Bakterien passen als Hippies einst nach Woodstock pilgerten, und das mit jeder Menge Platz zum Tanzen.» Die Welt, die Gee beschreibt, ist faszinierend. Das Kapitel, das wir Menschen dabei belegen, ist kurz und kommt fast am Ende. Die wirklich spannende Entstehung des Lebens fand vorher statt: «Als es in den Kampf zog, bestand das Leben auf der Erde aus kaum mehr als einem Haufen friedliebender Seegräser, Algen, Pilze und Flechten. Doch es erwies sich als zäh, wendig und ziemlich auf Krawall gebürstet. Das Leben auf der Erde wurde im Feuer geschmiedet, gehärtet aber wurde es im Eis.» Grossartig.
Die Stärke des Buchs von Henry Gee sind die plastischen Schilderungen. Über die ersten Bakterien schreibt er etwa: ;Diese Neigung von Bakterien, Lebensgemeinschaften mit anderen Bakterienarten zu bilden, ebnete den Weg zur nächsten grossen evolutionären Neuerung. Die Bakterien, so liesse sich fast sagen, hoben das WG-Leben auf ein ganz neues Level – das der kernhaltigen Zelle.» Nach dem Auseinanderbrechen des Superkontinents Rodinia tauchten die ersten Tiere auf. Gee schreibt: «Der ins Meer gespülte Kohlenstoff sank hinab in einen Ozean, der, abgesehen von einer dünnen Schicht, die an die Atmosphäre grenzte, so gut wie keinen Sauerstoff enthielt. Die Sauerstoffkonzentration in der Atmosphäre betrug ohnehin nur ein Zehntel ihres heutigen Wertes, und an der sonnenbeschienenen Wasseroberfläche war sie sogar noch geringer. Kein Tier, das grösser war als der Punkt am Ende dieses Satzes, hätte darin überleben können.» Das kann sogar ich mir vorstellen.
Das wohl Erstaunlichste am Leben auf der Erde – abgesehen von seiner schieren Existenz – ist laut Henry Gee übrigens die Geschwindigkeit, mit der es entstand. Schon 100 Millionen Jahre nach der Bildung des Planeten Erde selbst entstand das Leben. Dass diese unvorstellbare Zeit von 100 Millionen Jahren als kurz gilt, zeigt auch, von welchen Zeiträumen das Buch handelt. Ich dachte ja immer, dass zuerst die Pflanzen entstanden und dann die Tiere. Aber so einfach ist es nicht. Vielleicht war es sogar umgekehrt.
In der Evolution des Lebens kam es immer wieder zu Entwicklungsschüben. Ein solcher Schub brachte die Entwicklung des Anus. «Sie veränderte die gesamte Biosphäre» schreibt Gee. «Zum ersten Mal wurden Ausscheidungen zu festen Kugeln komprimiert, anstatt als Brühe aus gelösten Exkrementen ins Wasser zu gelangen. Statt sich langsam aufzulösen, sanken diese Fäkalien rasch zu Boden, was den Meeresgrund plötzlich zu einem ungemein beliebten Ort machte. Die Fäulnis vorantreibenden, sauerstofffressenden Organismen suchten ihre Nahrung nun vor allem in Bodennähe und nicht mehr im Bereich der ganzen Wassersäule. Die einst so trüben und diesigen Meere wurden klarer und reicherten sich mit zusätzlichem Sauerstoff an – so viel gar, dass es die Entwicklung größerer Lebensformen ermöglichte.» Wer hätte das gedacht: Am Anfang der Entwicklung von höherem Leben stand der Anus.
Eine weitere Revolution brachte die Entstehung des Eis: «Das amniotische Ei war eine Art Raumanzug zur Besiedlung einer neuen und feindlichen Welt – einer Welt jenseits des Wassers», schreibt Gee. Mit anderen Worten: Das Ei ermöglichte es dem Leben, schrittweise das Wasser zu verlassen.
Die ersten Lebewesen (kann man schon Tiere sagen?) waren alle Fleischfresser: «Fleisch ist schwer zu fangen, aber wenn man es einmal hat, ist es schnell und leicht verdaulich. Pflanzen dagegen leisten noch im Körper hartnäckigen Widerstand – und zwar mit ihrem zähen faserigen Gewebe und wehrhaften, von einer Ringmauer unverdaulicher Zellulose geschützten Zellen.» Erst in einem zweiten Schritt entwickelten sich deshalb Tiere, die auch Pflanzen fressen konnten. «Wenn sich das Pflanzenmaterial schon nicht mechanisch zerlegen liess – die ersten Tetrapoden hatten keine besonders guten Mahlzähne –, musste es abgebissen, zerkleinert, geschluckt und anschliessend ganz gemächlich von einer Vielzahl von Bakterien in einem grossen Darm fermentiert werden, so ähnlich wie Kompost.» Die pflanzenfressenden Tiere schafften das also nur mit Hilfe von Bakterien.
Lange vor den Dinosauriern entwickelten sich findige Tiere wie der in jeder Hinsicht bemerkenswerten Lystrosaurus: «Mit dem Körper eines Schweins, dem untrüglichen Fressinstinkt eines Golden Retrievers und einem Schädel, der Ähnlichkeit mit einem elektrischen Dosenöffner hatte, gedieh Lystrosaurus wie Unkraut in einem Bombentrichter» schreibt Gee. «Lystrosaurus war ein Dicynodontier, Vertreter der zahlreichen und vielfältigen Gruppe der Therapsiden, die im Perm einstmals das Leben auf dem Land beherrscht hatten. Ihre Gewohnheit, sich bei drohender Gefahr einzubuddeln, hatte sie womöglich vor der Apokalypse gerettet, die das Leben eines Grossteils ihrer Artgenossen forderte.»
Besonders spannend sind seine Ausführungen zu Dinosauriern, die äusserst erfolgreich über eine lange Zeit in allen Grössen die Erde bevölkerten. A propos: Warum wurden die Dinosaurier eigentlich so gross? Die Antwort liegt in ihrer Atmung. Dinosaurier atmen zwar ähnlich wie Säugetiere, sie haben die Atmung aber wesentlich verbessert. «Sie hatten für ihre Luftversorgung eine Art Einwegsystem entwickelt, welches das Atmen überaus effizient machte.» Die Luft strömte in die Lunge, wurde danach aber weitergeleitet und durch Ventile in ein verzweigtes System von Luftsäcken überall im Körper geschleust. Luftgefüllte Räume – im Grunde Erweiterungen der Lunge – umgaben die inneren Organe und lagen sogar im Inneren der Knochen. Dinosaurier waren voller Luft. «Und eben dies war das Geheimnis der enormen Grösse, die manche Dinosaurier erreichten – sie waren luftgekühlt.»
Ich sage ja: Ein überaus spannendes Buch, das einen die kurze Zeit, welche die Erde von Menschen bevölkert wird, mit anderen Augen betrachten lässt. Eine Zeit, die Henry Gee auch dadurch relativiert, als er erzählt, wie sich die Erde und das Leben darauf in den nächsten Millionen Jahren weiterentwickeln wird. Angesichts der kosmischen Dimensionen dieser Entwicklung spielen die paar Menschen, die gerade auf der Erde herumkrabbeln, wirklich eine untergeordnete Rolle.
Henry Gee: Eine (sehr) kurze Geschichte des Lebens. Hoffmann und Campe, 304 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-455-01221-7
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783455012217
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