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Ein Jahr zum Vergessen
Wir haben in den letzten Monaten viel gelesen über die Coronakrise aus Sicht von Virologen und Epidemiologen. In diesem Buch äussert sich Klaus Zierer aus der Sicht eines Professors für Schulpädagogik. Es erfülle ihn mit Sorge, dass viele Kinder in den letzten zwölf Monaten «mehr Zeit zuhause verbracht haben als in der Schule». Die zentrale Frage ist für ihn: «wie soll ein junger Mensch sich entwickeln können, wenn er von der Aussenwelt abgeschottet werden soll, von Freunden isoliert wird, immer wieder in Quarantäne muss und all das, was das Leben lebenswert macht, nicht tun darf?» Lernen zuhause sei «eine Herausforderung und kann Schule nicht ersetzten». Zu sehr fehlen die Kraft der Gleichaltrigen, der Lehrpersonen und der Schule. Vielen Familien sei in der Pandemie zu viel aufgebürdet worden. Damit verbunden sei die Frage der Bildungsgerechtigkeit – eine der Kernfragen der Demokratie. «Alle Kinder und Jugendlichen haben ein Recht auf bestmögliche Bildung. Man wird nicht als Bildungsverlierer geboren, man wird zum Bildungsverlierer gemacht», schreibt Zierer. «Kein Mensch darf zurückgelassen werden.» Das Bildungssystem habe es aber bis heute nicht geschafft, Lösungen anzubieten, wie diese politische Maxime umgesetzt werden kann.
Das «digitale Aufrüsten der Kinderzimmer mit Endgeräten» sei weder «Garant für Bildungserfolg, noch darf es ohne pädagogische Begleitung passieren». Genau das aber ist in den letzten Monaten auch in der Schweiz passiert. Zierer sagt, die Kollateralschäden der Massnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie seien heute deutlich sichtbar, «und sie treffen Kinder und Jugendliche besonders hart». Ihre Lernleistungen sind zurückgegangen. Die körperliche Verfassung hat Schaden genommen, und auch die psychosoziale Entwicklung hat gelitten. «Die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist ebenso angezählt wie ihre Bildung. Wir müssen anerkennen, dass Kinder und Jugendliche die Leidtragenden der Krise sind.» Die Coronapandemie habe «das Bildungssystem erschüttert und gleichzeitig bekannte Schwachstellen in einer dramatischen Art und Weise offengelegt». Zierer findet deshalb: «Es ist Zeit für einen Weckruf». Die Bildung von Kindern und Jugendlichen sei nicht nur die wichtigste Ressource eines Landes. «Die nächste Generation ist das Wertvollste, was eine Gesellschaft hervorbringt.» Es sei Zeit für eine Reform des Bildungssystems. Doch das könne nur aus der Perspektive der Lernenden gelingen.
Zierer hält nicht mit Kritik hinter dem Berg zurück. Mit Blick auf die Schulen spricht er von einer drohenden «Bildungskatastrophe». Betroffen seien vor allem Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Milieus. Dabei sei heute schon ohne Corona die Bildungsschere beachtlich. «Aber die schulischen Massnahmen, die zur Eindämmung der Coronapandemie ergriffen wurden, haben diese Situation massiv verschärft und tun dies noch weiter. Bildungsungerechtigkeit nimmt also massiv zu.» Kurz: Es droht eine Bildungskatastrophe. Klaus Zierer seziert die drohende Katastrophe mit Sachverstand und skizziert Lösungen für einzelne Bereiche des Schul- und Bildungssystems. Drei Stichworte haben mir dabei besonders gefallen. Er sagt, im Zentrum dürfe nicht einfach ein neues System stehen, es gehe darum, die Menschen darin zu stärken: Schülerinnen und Schüler, Lehrpersonen – und Eltern. Er fordert weniger PISA und mehr Bildung. Und sieht als Leitmotiv dabei keine abstrakten Kompetenzkonzepte, sondern – Freude. Ein spannendes Buch!
Klaus Zierer: Ein Jahr zum Vergessen. Wie wir die Bildungskatastrophe nach Corona verhindern. Herder, 128 Seiten, 18.50 Franken; ISBN 978-3-451-07228-4
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783451072284
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