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Ein deutscher Kanzler

Publiziert am 18. April 2024 von Matthias Zehnder

Seit bald zweieinhalb Jahren ist Olaf Scholz der deutsche Kanzler: Jedes Kind kennt sein Gesicht. Trotzdem bleibt der Mann ein Rätsel. Er kommuniziert erratisch und erklärt weder seine Politik noch seine Haltung. Und das in einer Koalition, in der sich die Gegensätze zwischen den Parteien kaum noch überbrücken lassen. Wer ist der Mann im Kanzleramt? Daniel Brössler leitet bei der «Süddeutschen Zeitung» die Parlamentsredaktion. Seit dem Amtsantritt von Olaf Scholz begleitet Brössler den Kanzler auf seinen Reisen. So gehörte er im Juni 2022 zu der kleinen Gruppe, die den Kanzler im Zug nach Kiew begleitete. Die Nähe ist dem Buch anzumerken. Nicht dass sich Brössler vom Kanzler vereinnahmen würde. Das nicht. Aber er ermöglicht uns einen Blick hinter die getönten Scheiben des Amtes und schafft Verständnis dafür, wie dieser Kanzler tickt. Ein Grund dafür, warum Scholz undurchsichtig bleibt: Er hadert mit dem deutschen Journalismus, der seiner Meinung nach ausführlichen Erklärungen seiner Politik ohnehin keine Beachtung schenkt. «Grundsatzreden werden grundsätzlich ignoriert», findet Scholz laut Brössler. Seine Erfahrung sei, dass «am Ende Slogans verfangen oder einprägsame Wortschöpfungen». Das Rezept des Kanzlers: Scholz schmückt nicht aus, er spielt runter.

Als junger Mann war Olaf Scholz Marxist. Er kämpfte für eine «Überwindung» des Privateigentums an Produktionsmitteln. Er forderte, die SPD müsse sich klar an die Seite der Friedensbewegung stellen. Auf die Strasse bringt viele Menschen in jenen Jahren neben dem Nein zur Atomkraft vor allem ein Thema: die «Nato-Aufrüstung». Olaf Scholz war ein scharfer Kritiker der Nato. Er nannte sie «imperialistisch». Biograf Brössler schreibt, ein ganzes Jahrzehnt lang, die 80er-Jahre hindurch, habe sich Scholz an der Nato abgekämpft: «Am Anfang dieses Kampfes steht eine technisch klingende Formel, der ‹Nato-Doppelbeschluss›.» Er kämpfte vehement gegen die Stationierung von Raketen in Deutschland – und damit gegen SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt. Für Olaf Scholz drohte 1983 die Gefahr «aus Washington, nicht aus Moskau», schreibt Brössler. Er und seine Kollegen in der SPD können dem autoritären Staatsgehabe der DDR zwar wenig abgewinnen. Doch «der reale Sozialismus mag zwar nicht ihrer sein, aber es ist Sozialismus. Kritik an den Zuständen dort halten sie für Ablenkung.» Erst als er die Zustände in der DDR und der Sowjetunion selbst erlebte, rückte Scholz langsam von seinen dogmatischen Positionen ab. Er wurde noch vor dem Mauerfall zum Pragmatiker. Heute ist er stolz auf diesen Lernprozess.

Pragmatisch packte er auch seine Karriere an. Scholz regiert lange als Bürgermeister Hamburg, schafft den Sprung auf das nationale Parkett, arbeitet sich in der Partei hoch und wird Kanzler. Brössler schafft es, diesen trockenen Aufstieg durch Ämter und Funktionen in einigen Schlüsselszenen darzustellen. Zum Beispiel die Beerdigung von Helmut Schmidt 2015. Scholz steht in Hamburg zwischen Henry Kissinger und Angela Merkel: «Merkel hält die Trauerrede für Deutschland, Kissinger für die Welt, Scholz für Hamburg – und die deutsche Sozialdemokratie.» Es sind solche Szenen, die den Aufstieg von Olaf Scholz für Aussenstehende fassbar und vielleicht auch begreifbar machen.

Olaf Scholz ist kein Vorwärtsstürmer. Entscheidungen fallen ihm oft schwer. Er braucht Zeit. «Der Ukraine hätte es geholfen, hätte er sich beispielsweise früher zur Lieferung von Leopard-Panzern durchgerungen. Auch der Marschflugkörper Taurus würde ihr nützen», schreibt Brössler. Und doch (oder vielleicht gerade deswegen?) sprechen viele Zahlen und Fakten für den Kanzler. Deutschland hat wesentlich dazu beigetragen, dass sich die Ukraine gegen den russischen Landraub zur Wehr setzen konnte. Scholz hat dabei immer den Rückhalt durch die USA gesucht. «Doch hätte ein deutscher Kanzler, die Gefahr eines Weltkriegs vor Augen, wirklich weiter gehen können als der US-Präsident?», fragt Brössler. Was stimmt: Scholz ist Ängsten in der Bevölkerung begegnet. Er hat zuweilen aber auch ganz bewusst mit ihnen gearbeitet. Bis heute fällt es Scholz schwer, sich zu erklären. Er bleibt hölzern, oft steif. Gerade deshalb sei er aber oft erfolgreich: «Indem er den Bedächtigen, den Zaudernden verkörperte, beruhigte Scholz auch viele, die den Waffenlieferungen skeptisch gegenüberstanden oder sie ablehnten», schreibt Brössler.

Dabei geht fast das eigentliche Drama vergessen, das in seiner Kanzlerschaft steckt: Olaf Scholz wollte der Kanzler des Fortschritts sein, der sozialen Sicherheit, der Klimaneutralität und gern auch der soliden Finanzen. Und dann kam der Krieg in der Ukraine und mit ihr die Zeitenwende. Deutschland, schreibt Brössler, «musste sich von Illusionen verabschieden und von einem lukrativen Geschäftsmodell. Darauf war es nicht vorbereitet. Genauso wenig war es sein Kanzler.» Olaf Scholz sei kein Mitglied der «Moskau-Connection» gewesen, habe aber für Nord Stream 2 als Vizekanzler getan, was er konnte. «Der Gefahr durch Wladimir Putin hat auch er erst in die Augen gesehen, als es zu spät war.» Sein Verdienst bleibt, drei Tage nach dem russischen Überfall die Richtung der deutschen Politik verändert zu haben.

Brössler attestiert Scholz «strategisches Geschick in politischen Machtkämpfen und einen scharfen Intellekt». Doch der Kanzler ist kein Mensch, «dem die Herzen zufliegen, und keiner, der sich leicht anderen öffnet. Emotionen in der Politik sind ihm suspekt. Scholz gehört zum Typus des Distanzpolitikers.» Scholz ist nicht erfolgreich, weil er besonders beliebt ist, er ist es, wenn die Leute ihm besondere Fähigkeiten zutrauen. Die Bundestagswahl 2021 hat er mit dem Image des soliden Finanzpolitikers gewonnen. «Der Sieg gegen alle Vorhersagen war sein Triumph – und wurde ihm zugleich zum Verhängnis», schreibt Brössler. Die Tatsache, dass er so, wie er war, Kanzler werden konnte, habe ihn darin bestärkt, dass er so, wie er ist, als Kanzler bleiben kann. «Unter anderen Umständen hätte es vielleicht funktioniert, aber inmitten einer unablässig streitenden Koalition wirkt Scholz’ demonstrative Gelassenheit weniger beruhigend denn verstörend.»

Es bleibt ein zwiespältiges Bild, das Brössler uns vom deutschen Kanzler zeichnet. Viele Entscheidungen fallen ihm schwer, er braucht Zeit dafür. Am Ende geben ihm die Fakten und die Zahlen aber recht.

Daniel  Brössler: Ein deutscher Kanzler. Olaf Scholz, der Krieg und die Angst. Propyläen, 336 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-549-10076-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783549100769

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