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Echt. Der Wert der Einzigartigkeit in einer Welt der Kopien

Publiziert am 27. März 2024 von Matthias Zehnder

In den letzten Tagen hat sich die ganze Welt mit einem Foto der englischen Prinzessin beschäftigt: Prinzessin Kate hat zum britischen Muttertag ein Foto von sich und ihren drei Kindern veröffentlicht. Schnell kamen Zweifel an dem Bild auf: Experten wiesen darauf hin, dass es bearbeitet war. Oder besser: Das es zu stark und zu ungeschickt bearbeitet war. Denn eigentlich sind heute fast alle Fotos manipuliert: Die Bearbeitung beginnt schon in der Kamera. Wir leben in einer Welt von Fälschungen. Wolf Lotter folgert: Das Echte sei so selten geworden, dass es schon als Luxus gilt. «Dieser Luxus sichert aber alles, was wichtig ist, um durch die Jahre zu kommen: Wohlstand, Wissen, Innovationsfähigkeit, die Freude an Einmaligem, Erlebtem.» In seinem Buch rückt er dem Echten auf die Pelle und fragt sich: Was ist echt? Was ist Realität, Wahrheit, das Original, was ist beweisbar und faktisch, vertrauenswürdig und nachhaltig?

Das Problem ist, siehe Prinzessin Kate, dass unsere Medienwelt voller Fälschungen ist. Dabei geht es nicht nur um Fake News und Desinformation: «Es wird gesampelt, recycelt und geklaut, was das Zeug hält», schreibt Lotter. Das Internet, wie wir es heute kennen, lebt geradezu von der Kopie. Doch: «Die Wissensgesellschaft lebt vom Echten, vom Einzigartigen. Wer das übersieht, verliert alles.» Mit der Digitalisierung hätten wir uns vorschnell von der Einzigartigkeit verabschiedet. Wir meinten, es gebe keinen technischen Qualitätsverlust mehr, alles sei ein Zitat, alles kopierbar, wiederverwertbar. «Das Recycling des Vorhandenen ist aber nichts anderes als das Verfrühstücken der Substanz. Fast alle Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte wenden sich gegen Künstler, gegen die Schöpfer der Originale», schreibt Lotter.

Die Echtheit, um die es ihm geht, ist das «Handfeste, das Livekonzert, das wirkliche Leben, das Materielle, die Realität, die keine beliebige Konstruktion ist und keine unverbindliche Grösse.» Sondern: Qualität. Es gehe nicht um immer mehr, sondern um «immer besser. Echte Fortschritte durch echte Innovationen, die unser Leben verbessern – denn dabei ist immer noch sehr viel zu tun. Echte Teilhabe und Chancen, keine Marketing-Fakes und keine hohlen politischen Versprechen einer besseren Zukunft.» Echt ist mit anderen Worten, wenn geliefert wird. Echt ist, wenn dann auch kommt, was wir erwartet haben – und zwar mindestens das, wenn nicht gar etwas Besseres.

Ein Problem dabei ist, dass es vielen Menschen mit dem Fake viel wohler ist als mit der Realität. Für manche ist es bitter, dass der Parmesan in den USA erfunden wurde und das Wiener Schnitzel nicht aus Wien kommt. Realität ist deshalb oft bloss das, was die Menschen wahrnehmen wollen. Ganz besonders gilt das in der Politik: Sie richtet sich nach den Vorurteilen und Gewohnheiten ihrer Klienten. Doch das Echte ist einzigartig. Echtheit und Originalität sei immer Differenz, erkennbarer Unterschied zu dem, was «normal» und «konform» ist. «Normalität und Konformität sind also geradezu das Gegenteil dessen, was Innovation und Transformationsfähigkeit, Originalität und Einzigartigkeit ausmachen», schreibt Lotter.

Aber was ist das, diese Realität, das Echte, Wahre? Lotter zitiert einen wunderbaren Satz des amerikanischen Autors Philip K. Dick: «Die Realität ist das, was nicht weggeht, wenn man aufhört, daran zu glauben.» Lotter folgert: Die echte Realität interessiert sich nicht für unsere Konstruktionen. «Sie ist nicht anfällig für unseren Glauben, für unsere Irrtümer. Sie ist da. Und es ist sehr vernünftig, sich mit ihr auseinanderzusetzen.» Es gibt sie also, diese echte Realität, die naturwissenschaftlich überprüfbar ist. «Aber das, was Menschen als wahr empfinden, als Wahrheit und damit als Wirklichkeit, ist noch einmal etwas ganz anderes.»

Und was heisst das für uns Menschen? Für Wolf Lotter ist der Homo faber, der schaffende Mensch, der echte Mensch. Das lateinische faber steht dabei für alles, was diese Originalität ausmacht: Handwerker, Künstler, Verfertiger, Werkmeister. Dabei gibt es keinen Grund, Kopfarbeit und Handarbeit zu trennen. Erst in der Industrialisierung wurde beides entkoppelt. «Alle Handarbeiter und Kopfarbeiter sind kreativ, wenn sie Probleme lösen, und sie verrichten stumpfsinnige Arbeit, wenn sie die immer gleichen Dinge tun und diese nicht hinterfragen», schreibt Lotter. «Der Homo faber ist schlicht und ergreifend die Normalität der menschlichen Kulturgeschichte. Die Kopiergesellschaft der Routinearbeit bleibt eine Episode.» Echtheit sei nicht Weglassen, sondern Ermöglichen, und dieses Ermöglichen brauche «einen Realitätssinn, der etwas schaffen will, etwas bewirken, etwas können, was noch niemand kann. Eine echte Welt.»

Und was ist mit der künstlichen Intelligenz, die dem Menschen den Stift aus der Hand zu nehmen droht? «Die Echtheitsgesellschaft ist eine Qualitätsgesellschaft. Deshalb ist die Diskussion darüber, ob wir ChatGPT einsetzen dürfen oder nicht, heuchlerisch», schreibt Lotter. Viel wichtiger wäre, dass klar sei, woher all die Weisheiten kommen, die künstliche Intelligenz uns serviert. «Woher stammen die Zitate, die Einsichten, die Inhalte? Wo haben sie die menschlichen Trainer und Hüter des Systems her? Ist ihnen das selbst eingefallen, oder ist das ein Plagiat? Darum streiten, zu Recht, nun immer mehr Urheber. Und das ist, was fehlt.» Kulturpessimismus sei nicht angebracht: «Echt ist, was in uns steckt. Unser Bewusstsein, und das ist nichts anderes als das, was man seit alten Zeiten unsere Seele nennt. Das ist der harte Kern des Echten, unserer Einzigartigkeit. Das sind wir.»

Wolf Lotter: Echt. Der Wert der Einzigartigkeit in einer Welt der Kopien. Econ Verlag, 224 Seiten, 32.50 Franken; ISBN 978-3-430-21109-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783430211093

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