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Dreilinden

Publiziert am 9. August 2022 von Matthias Zehnder

Dreilinden ist ein grosser, englischer Park in Luzern mit vielen alten Bäumen und einem weiten Blick ins Alpenpanorama. 35’000 Quadratmeter gross ist der Park. Im Zentrum steht die Villa Vicovaro, ein schlossartiges Gebäude. Dazu gehören ein Ökonomiegebäude, ein Pförtnerhaus, Marmorskulpturen, eine kleine Grotte und, das gibt’s tatsächlich, eine künstliche Tor-Ruine. Eleonora Cenci, Fürstin von Vicovaro, hatte das Landstück 1890 gekauft und sich darauf im Stil des Fin de Siècle eine Sommerresidenz bauen lassen. Seit 1929 gehört das Grundstück der Stadt Luzern. Hier entstand 1942 das Konservatorium Luzern. Von 1987 bis 1999 leitete der Basler Thüring Bräm als Direktor das Konservatorium Luzern, 1999 bis 2001 amtete er als Gründungsrektor der Musikhochschule Luzern, die durch den Zusammenschluss des Konservatoriums, der Akademie für Schul- und Kirchenmusik sowie der Jazz Schule Luzern entstanden war. «Ich frage mich, was mich damals an diesen merkwürdigen Ort auf dem grünen Hügel über dem fjordähnlichen Vierwaldstättersee im Herzen der Schweiz verschlagen hat», schreibt Bräm. In einem Buch hat er Reden, Aufsätze und Erinnerungen über seine Zeit auf Dreilinden zusammengetragen. Als roter Faden zieht sich eine Frage durch die Schriften: die Frage nach dem Sinn dessen, was Künstler tun – und wie sich das den Studierenden vermitteln lässt. Das kleine Buch wirft deshalb Fragen auf, die weit über den englischen Park und die Zeit des Luzerner Konservatoriums hinaus Bedeutung haben. Die Musikhochschule hat 2020 den Park mit Ausblick auf die Alpen verlassen und ist in einen Neubau auf dem Campus Südpol in Kriens umgezogen. Auch da werden sich die jungen Musikerinnen und Musiker und ihre Dozenten mit den Fragen beschäftigen müssen, die Bräm in seinem Buch aufwirft.

Wie wird ein begabter junger Mensch zu einem guten Musiker oder einer guten Musikerin? Thüring Bräm ist überzeugt, dass es nicht nur auf das Handwerk ankommt, also auf die Anzahl Stunden, die der junge Musiker im Übungsraum verbringt. Ein Faktor ist die Ausstrahlung des Ortes. Eine Ausstrahlung, wie er sie im Dreilindenpark in Luzern gefunden hat, oder in der nördlichsten Hochschule Europas in Tromsö oder in der Schule in Fiesole bei Florenz. Das seien Orte, die zum Verweilen und zum ausschweifenden Denken einladen, es seien künstliche Paradiese, schreibt Bräm, Orte, wo Kunst möglich wird. Was eine Musikhochschule ausmacht, beschreibt Thüring Bräm in seinem Buch über Dreilinden aus unterschiedlichen Perspektiven.

Zum Abschied von Kaspar Lang als langjährigem Präsidenten des Konservatoriumvereins Luzern etwa sagt Bräm 1997 deutlich, was für ihn eine gute Musikschule ausmacht. Es sei, schreibt Bräm, der direkte Umgang mit Musik und Mensch. Eine kleine, flexible Schule ohne grosse Administration. «Zentral dringlich sind die künstlerische und pädagogische Autonomie des Lehrplans und die Freiheit in der Wahl der Lehrpersonen. Wichtig sind flexible, auseinanderhaltbare Teile für die verschiedenen Studienrichtungen, die von sehr unterschiedlichen Menschen geprägt sind. Wichtig ist der gegenseitige Respekt für die jeweilige Eigenleistung, das eigene Profil der Teile in einem Ganzen.» Es liest sich wie die Beschreibung eines Orchesters, Bräm meint aber die Schule als Ort einer eigenverantwortlichen künstlerischen Ausbildung, weit weg von den normierten Ausbildungsgängen an Fachhochschulen, wo Credit Points das künstlerische Wagnis ersetzt haben.

Dabei ist Thüring Bräm keineswegs ein weltabgewandter Künstler. In der Diplomrede von 1997 über das Künstlerische und das «Krämerische» ruft er die frisch diplomierten Musikerinnen und Musiker dazu auf, beiden Seiten Platz zu geben: «Sagen Sie Ja zum Krämer in Ihnen auf dem Bazar dieser Welt, zum Spieler, der um Geld spielt, der anpreist und verkauft und dafür Geld ud Sympathie erntet.» Ein Jahr später, an der Diplomfeier von 1998, legt er den Fokus wieder auf das Künstlerische und die Worte machen klar, wie schwer es eine künstlerische Ausbildung in einem akademischen Korsett hat: «Unser erstes Ziel ist es, Fragen zu stellen und nicht Antworten zu geben. Es gibt Fragen, die nicht richtig oder falsch beantwortet werden können, die aber dennoch gestellt werden müssen und schon dadurch unsere Sichtweise verändern.» Entscheidend sei «eine Forschungshaltung, im Gegensatz zu einer Konsumhaltung», die «Neugierde des Entdeckenwollens und den richtigen künstlerischen und pädagogischen Antrieb» bringe. 

Ein weiteres Jahr später warnt Bräm in seiner Ansprache zur Eröffnung der Musikhochschule Luzern, deren Gründungsrektor er war: «Die Bilder und Stärken, die wir von uns nach aussen tragen, sind von Bedeutung. Allerdings darf die Präsentation nicht zum Tun-als-ob werden. Sie bedarf innerer Überzeugung und innerer Kraft. Nicht das System macht die Schule aus, sondern die individuelle und die kollektive Stärke der Menschen in diesem System.» Und weiter: «Ich wünsche mir Freiräume, in denen auch Entwicklungen geschehen können, die wir nicht so vorgeplant haben; neue Kombinationen, Wegbahnen, wo es Kreuzung gibt, auf denen wir nach rechts oder nach links abbiegen oder auch geradeaus weiterfahren können. Wir sollten dies innerhalb der Fakultäten, innerhalb der unterschiedlichen Teilschulen der Fachhochschulen und der universitären Hochschulen, aber auch insbesondere innerhalb ähnlicher Institutionen in ganz Europa und Übersee tun können.» Für Bräm stand also immer der freie Mensch im Zentrum. Ob das die Bildungspolitiker gern gehört haben?

Seine Ansprachen und Reden, seine Gedanken und sein Gedenken an andere wird im Buch zu einem Nachruf auf ein verlorenes Paradies, der Schule auf Dreilinden. Die Stadt Luzern hat die Liegenschaft des ehemaligen «Konsi» mittlerweile an einen Kunsthändler vermietet. Das Haus wird in Zukunft in eine Kunstvilla mit Gemälden, einem Café und einer Bibliothek verwandelt, einer neuen Kombination des Künstlerischen und des Krämerischen. Beim Leser des schmalen Bandes bleib das Bild der Musikvilla aber lebendig. Einer Villa, die von Anfang mit einer künstlichen Tor-Ruine versehen worden ist, weil nicht schön sein kann, was perfekt ist. Bräms Buch über die Bildung von Musikerinnen und Musikern ist höchst anregend für das Nachdenken über Musik, über unsere Schulen und die Frage, ob normierte Ausbildungsgänge wirklich Künstler hervorbringen können.

Thüring Bräm: Dreilinden. Vom Konservatorium zur Musikhochschule 1987-2006. Ars Braemia, 145 Seiten, 27 Franken; ISBN 978-3-033-09209-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783033092099

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