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Die Wahrheit über Eva

Publiziert am 10. Dezember 2020 von Matthias Zehnder

Wörtlich seit Adam und Eva wird die Schuld an der Misere der Menschheit der armen Eva in die Schuhe geschoben: Nur weil sie sich von der Schlange hat dazu überreden lassen, von der verbotenen Frucht zu naschen, wurde die Menschheit aus dem Paradies vertrieben. So steht es in der Bibel. Warum ist das so? Gehörte die Welt schon immer den Männern? Wie kam es überhaupt zur strikten Einteilung in Frauen und Männer? Und wieso dominieren nicht Frauen? Oder ist die Biologie doch entscheidend? Es sind diese Fragen, die am Anfang des neuen Buchs des Evolutionsbiologen Carel van Schaik aus Rotterdam und des Historikers und Literaturwissenschaftlers Kai Michel aus Hamburg stehen. In ihrem letzten Buch «Das Tagebuch der Menschheit» haben sie die Bibel einer evolutionären Lektüre unterzogen. «Als Agnostiker lasen wir sie nicht als Heilige Schrift oder Wort Gottes, sondern als ein Tagebuch der Menschheit, das die Versuche der Menschen dokumentierte, sich in einer Welt einzurichten, für die sie nicht gemacht zu sein scheinen», schreiben die beiden. Tatsächlich konnten sie zeigen, dass die Bibel eine phantastische Quelle für die kulturelle Evolution des Homo sapiens ist, die nach dessen Übergang zum sesshaften Leben rasant an Fahrt aufnahm. «Die Bibel lässt uns in einer evolutionären Perspektive viele Probleme besser verstehen, mit denen wir uns heute noch herumschlagen, und geht uns deshalb selbst dann an, wenn wir gar nicht an Gott glauben», sind sie überzeugt.

Aber was ist mit Eva? Interessanterweise spricht laut van Schaik und Michel gerade die Bibel Eva frei: Gott habe offensichtlich nicht von Anfang an geplant, die Frauen zum dienenden Geschlecht zu machen. Das war eine Strafe. Die Botschaft der Bibel lautet: Die weibliche Unterordnung ist ein historisches Produkt; sie ist weder göttliche Wesensbestimmung noch biologisches Schicksal. Und die beiden stellen aus agnostischer Perspektive fest: Die Bibel hat recht.

Van Schaik und Michel fragen sich, wie die Welt gegenüber den Frauen so schrecklich ungerecht werden konnte. Sie wollen verstehen, wie es zur (evolutionär betrachtet) jungen Erfindung der sozialen Ungleichheit von Frauen und Männern kommen konnte. Dafür durchstreifen sie zwei Millionen Jahre menschlicher Evolution und begutachten Phänomene, von denen sie hoffen, dass ihre Kenntnis die aktuellen Geschlechterdebatten bereichern werden. 

«Um nicht missverstanden zu werden: Damit ist keinesfalls die Wahrheit über die Frauen gemeint – die es natürlich nicht gibt! –, sondern die Aufklärung dessen, was zur Erfindung der sozialen Ungleichheit von Frauen und Männern führte», schreiben van Schaik und Michel. Sie kümmern sich dabei um die biblische Eva ebenso wie um die biologischen Evas. Sie verbinden Biologie und Geschichte. Sie interessieren sich für Bonobo-Sex genauso wie für Venusfigurinen, rätselhafte Steinzeitheiligtümer, mesopotamische Götterkönige, die Apostelin Maria Magdalena und die Erbsündenlehre des Augustinus von Hippo. Das Resultat ist ein spannender Parforceritt durch die Kulturgeschichte der Menschheit – und die Evolution. Und der Ritt ist fruchtbar. Wenn man die zwei Millionen Jahre betrachtet, in denen die Gattung Homo ihre typischen Charakteristika entwickelte, dann macht die Zeit, in der die Männer die Frauen dominierten und die Frauen unter dem Eva-Komplex litten, einen winzigen Bruchteil aus: «Stellen wir uns diesen gewaltigen Zeitraum als einen Tag von 24 Stunden vor, dominierten Männer und Schrift nicht einmal vier Minuten lang» – das sind mickrige 0,25 Prozent der Menschheitsgeschichte. 

Ihr Buch sei «der Versuch, die patriarchale Matrix in ihrer Entstehung und Wirkung zu verstehen», schreiben van Schaik und Michel. Sie beginnen bei Eva und Adam, bei dem, was sie die «Lüge über Eva» nennen. Geschichte von Adam und Eva sei «ein Plagiat, ein heidnisches sogar, und Eva kommt darin nicht die geringste Schuld zu». Anschliessend versuchen sie, jene Lücken, welche die Geschichte von Adam und Eva hinterlassen hat, auf der Basis aktueller biologischer, evolutionärer und ethnographischer Forschungen zu schliessen. Sie führen ein in die biologische und die kulturelle Evolution und zeigen, wie das mit der Menschwerdung wirklich seinen Lauf nahm. Zudem zeichnen sie auf der Grundlage archäologischer, genetischer, historischer und religionswissenschaftlicher Erkenntnisse nach, wie das Geschlechterverhältnis aus der Balance geriet, die Ungleichheit erfunden und zementiert wurde und welche zentrale Rolle Religion dabei spielte. Nicht zuletzt gehen sie der Frage nach, wie es zur «Dämonisierung der Sexualität» kam. Es sei «höchste Zeit, Eva Gerechtigkeit widerfahren zu lassen», schreiben die beiden. Eva sei die Frau, die die Initiative ergreift, die «sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte». Sie wägt ab und entscheidet, sie muss keinen Mann fragen. Sie lässt sich nichts sagen, schon gar nicht von fragwürdigen Autoritäten. «Eva, das ist die erste Heldin der Menschheitsgeschichte. Und Adam? Der nahm die angebotene Frucht aus Evas Hand und tat es ihr gleich: Er biss herzhaft zu.»

Und was ist nun die Wahrheit über Eva? Laut van Schaik und Michel haben wir während rund 99 Prozent der Menschheitsgeschichte in kleinen, egalitären Gruppen als nomadische Jäger und Sammler gelebt. Das Verhältnis von Frauen und Männern habe sich dabei «in einem delikaten Gleichgewicht» befunden, Frauen und Männer hätten beide substanziell zum Familien- und Gruppenunterhalt beigetragen. Und dann wurden die Menschen aus dem Paradies vertrieben: Mit dem Sesshaftwerden wurde das «Gleichgewicht von zentrifugalen Kräften erfasst und geriet ins Schwanken». Erst neigte es sich in Richtung Frauen, die begonnen hatten, Pflanzen zu kultivieren, und damit am Anbeginn der Landwirtschaft standen, dann kippte es zu den Männern. Die Frauen zahlten für ihren Erfolg einen hohen Preis: «Das sesshafte Leben führte zu einer Zunahme der Geburten, die bald eine Bevölkerungsexplosion auslösten. Zusammen mit der Arbeitsbelastung durch den Hackfeldbau schwächte das die weibliche Gesundheit massiv und brachte die Frauen in die Defensive.» Dazu kam, dass fruchtbares Land, Vieh und angehäufte Vorräte zu Besitz führte, der gewahrt und in der Familie behalten werden musste. So blieben die Söhne vor Ort, die Frauen mussten zum Heiraten ihre Familien verlassen. Mit dem Wechsel an neue Orte oder in fremde Sippen verloren Frauen ihre angestammten Netzwerke und damit Unterstützung in jeder Hinsicht. «Die Bevölkerungszahlen stiegen und stiegen und verschärften die Konkurrenz. Die Gesellschaften wurden grösser, anonymer, Seuchen grassierten, Krieg wurde alltäglich. Gewalt avancierte zum ultimativen Erfolgsrezept.» Krieg wurde zum Prinzip. «Ein martialisches Ethos formierte sich, in dem eine sich ums Töten drehende toxische Männlichkeit kultiviert wurde. Es verband sich auf das engste mit der männlichen Religionssphäre.» 

Wenn die Ernten gut waren, kamen einzelne Familien zu immer grösserem Besitz. «Und der musste nicht nur verteidigt, sondern auch weitergegeben werden», schreiben van Schaik und Michel. «Das Vererben von Besitz ist eine kulturelle Erfindung, keine menschliche Selbstverständlichkeit. Es basiert auf der Aushebelung eines menschlichen Urgesetzes: der Verpflichtung zum Teilen, und führt zur Welt von Arm und Reich mit all ihren Ungerechtigkeiten.» Mit schwerwiegenden Konsequenzen: «Um sicherzustellen, dass der Erbe tatsächlich der Sohn des Vaters war, wurden Frauen zur absoluten Treue gezwungen. Die Ehe wird zu einem patriarchalen Institut, um das Eigentum in der eigenen Linie weiterzugeben. Waren Männer besonders erfolgreich im Anhäufen von Besitz – die Gruppen als Kontrolle sozialen Verhaltens befanden sich längst in Auflösung –, nahmen sie sich mehr als eine Frau. Das heizte die Konkurrenz an.»

Um die Herrschaft einzelner Männer zu legitimieren, etablierte sich der männliche Religionsbereich als Herrschaftsreligion. «Sie war die wichtigste Stütze der Macht.» Als ein Sonderfall dieser Herrschaftsreligion entstand der Monotheismus. «Sein totalitärer Anspruch verbot – zumindest in der Theorie – alle alternativen religiösen Praktiken und enteignete damit die Frauen auch religiös.» Die römischen Kaiser erkannten das absolutistische Herrschaftspotenzial des christlichen Monotheismus, adoptiertenihn als Staatsreligion, die «in entscheidenden Punkten, wie der Rolle von Frauen und der Bedeutung des Reichtums, den Intentionen der Jesus-Bewegung geradezu diametral gegenüberstand». In der Folge formierte sich die Kirche als «mächtigste und dauerhafteste Männerorganisation der Weltgeschichte» und spendete den Königen des Abendlandes die höchste Legitimation. 

Und was lernen wir daraus? Dass die Unterdrückung der Frauen, dass der Eva-Komplex eine rein kulturelle Entwicklung ist! «Die menschliche Welt hat sich innerhalb weniger Jahrtausende radikal gewandelt», schreiben van Schaik und Michel. Doch die angebliche Normalität unserer Geschichte ist keine. «Die letzten rund 10000 Jahre stellen eine Ausnahmesituation dar, eine Radikalisierung menschlicher Möglichkeiten.» Die gute Nachricht, die darin steckt: Der Eva-Komplex ist nicht naturgegeben, sondern eine kulturelle Entwicklung. Und kulturelle Phänomene lassen sich verändern. Wie die Geschichte zeigt, sogar recht rasch. 

Carel van Schaik, Kai Michel: Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern. Rowohlt Verlag, 704 Seiten, 37.90 Franken; ISBN 978-3-498-00112-4

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