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Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr

Publiziert am 16. Juni 2023 von Matthias Zehnder

In der Schweiz lief in der Geschichte einiges anders als in den Ländern um sie herum. Alt-Botschafter Paul Widmer Paul Widmer findet deshalb, dass es sich lohnt, einen Blick auf dieses Anderssein zu werfen. In seinem Buch stellt er Überlegungen zu sechs Themen rund um dieses Anderssein an: zur Schweiz als Modell, als Name, als Begriff, als Nation und als Staat, ergänzt um Beobachtungen zur Neutralität. Dabei hantiert er nicht mit abstrakten Begriffen, sondern mit konkreten Beispielen aus Geschichte und Gegenwart. Es geht ihm darum, den Grund aufdecken, warum die Schweiz anders ist. Widmer ist überzeugt, dass man aus der Geschichte lernen kann – allerdings weniger, «wie man es machen muss, als wie man es nicht machen darf». Widmer zitiert in seinem Buch breit aus der Literatur, aber auch Historiker und Politiker. Das macht sein Buch zu einem Schatz für alle, die eine Erst-August-Rede schreiben wollen. Etwa die Sätze von Voltaire, der schrieb, das einzige, was die Schweiz zu bieten habe, sei «ein verhangener Himmel, unfruchtbare und steinige Böden, Berge und Abhänge. Dennoch streitet man sich mit gleichem Eifer um die Souveränität dieser Felsbrocken wie um das Königreich Neapel oder um Kleinasien.» Was kann die Schweiz denn sonst anbieten? Die Antwort von Voltaire, dem sich Widmer anschliesst: Freiheit. Auch Widmer selbst liefert immer wieder schöne Zitate für die nächste Ansprache. Etwa: «Geschichtliche Erfahrung liefert keine Erfolgsrezepte für die Gestaltung der Zukunft, aber sie hilft, Fehler der Vergangenheit zu vermeiden.» Denn Geschichte wiederhole sich nicht, «aber sie reimt sich». Das ist nicht nur gut, sonder auch schön gesagt.

Das Buch beginnt damit, dass die Schweiz ein Land ist, das es eigentlich gar nicht gibt. Offiziell heisst die Schweiz nämlich «Confoederatio Helvetica», auf Deutsch «Schweizerische Eidgenossenschaft». Selbst in der Schweiz wissen das aber viele Menschen nicht, deshalb wird im Sport nicht das Kürzel «CH» verwendet, sondern das eingängigere «SUI» für «Suisse». Paul Widmer erklärt, warum das so ist: Es war den Schweizern schlicht nicht wichtig, wie sie heissen. «Die Namensgebung war in der Eidgenossenschaft nie ein machtpolitisches Mittel, um politische Ansprüche durchzusetzen.» Und als man sich auf einen Namen einigte, war er sprachlich eigentlich falsch: «Ausgerechnet im Jahr 1848, als die Schweiz mit der neuen Bundesverfassung den alten Staatenbund überwand und sich als Bundesstaat konstituierte, bezeichnete sie sich offiziell als Konföderation, also als Staatenbund.» Sachen gibts. Auch sprachlich ist die Schweiz ein Sonderfall: Während die meisten anderen Ländernamen keinen Artikel brauchen, kommt «Schweiz» nicht ohne begleitendes «die» davor aus.

Die Schweiz hat also einige Probleme mit ihrem Namen. Trotzdem ist sie in der ganzen Welt ein Begriff: «Die Schweiz hat ein hohes Profil», schreibt Widmer. «Für ein kleines Land ist das bemerkenswert.» In der Tat. Das schaffen nur wenige Staaten und meistens sind es grosse Mächte, die zum Inbegriff eines bestimmten Typus von Staat werden. Widmer nennt etwa Grossbritannien als Urbild einer konstitutionellen Monarchie, die USA als freiheitliche Führungsmacht, die ehemalige Sowjetunion als Prototyp eines kommunistischen Staatswesens oder Schweden als Muster eines Wohlfahrtsstaates. Und für was ist die Schweiz nun Inbegriff in der Welt? Widmer nennt verschiedene Faktoren und begründet sie historisch. Etwa dass die Schweizer keine Untertanen sind, sondern Genossen (genauer: Eidgenossen). Dass der genossenschaftliche Gedanke das ganze Staatswesen durchzieht. Daraus ergibt sich der Milizgedanke und der sparsame Staat, der für seine Bürger da ist. Wie stark die Schweiz als Modell wirkt, zeigt sich etwa daran, dass kleinere, erfolgreiche Staaten gern als «Schweiz» bezeichnet werden. So gilt Singapur als die «Schweiz Asiens», Uruguay als die «Schweiz Lateinamerikas» und der Libanon galt lange als die «Schweiz des Nahen Ostens».

Spanend ist das Kapitel über die Schweiz als Nation. Denn die übliche Formel «Sprachgemeinschaft gleich Nation, Nation gleich Staat» funktioniert in der viersprachigen Schweiz offensichtlich nicht. Was ist es dann, das die Schweiz im Innersten zusammenhält?

Widmer schreibt, lange bevor der Begriff «Nation» als Bindeglied zwischen Staat und Volk aufkam, habe sie sich durch ein «starkes Zusammengehörigkeitsgefühl als Nation» konstituiert. «Aber ihr einigendes Element ist nicht die Sprache, sondern der Wille zur Freiheit.» Und zwar in zwei Richtungen: «Nach oben, im Verhältnis zu übergeordneten Autoritäten, war es das zähe Festhalten an alten Rechten, die Auflehnung gegen dynastische Ansprüche, nach unten, in den Anforderungen an sich selbst, war es der Wille zur Selbstverwaltung.» Dinge, die man nicht allein zustande brachte, wollte man solidarisch angehen. «Zur Schweizer Freiheit gehört die Rebellion, aber auch der genossenschaftliche Gedanke.» Offenbar nennt sich die Schweiz doch zu Recht «Eidgenossenschaft».

Und doch ist die Schweiz als Staat eine eigentümliche Veranstaltung, weil ihre Bürgerinnen und Bürger fremdeln mit dem Staat. Widmer schreibt: «Die Schweizer weisen in ihrer Einstellung zum Staat im Allgemeinen eine eigentümliche Mischung von Patriotismus und Nüchternheit auf. Sie lieben ihr Land, aber nicht unbedingt den Staat.» Auch die Verfassung erregt keine Bewunderung. Im Gegenteil: «Man schustert nach Leibeskräften daran herum.» Ähnliches wäre in den USA, wo die Verfassung förmlich verehrt wird, gänzlich unvorstellbar. Die Schweizer, schreibt Widmer, sehen in der Verfassung «lediglich ein Mittel, um das zu ermöglichen, was die Schweizer als das Wesen ihres Staates betrachten: ein Höchstmass an Freiheit und Unabhängigkeit.» Umgekehrt ruft die Staatsgewalt da, wo sie in Erscheinung tritt, etwa in der Justiz oder der Verwaltung, «eher Unbehagen hervor. Das ist seit der Gründung der Eidgenossenschaft so.»

Und dann ist da noch die Sache mit der Neutralität. «Sie gehört so selbstverständlich zur Schweiz wie das Matterhorn», schreibt Widmer. Er sagt allerdings nicht, dass das Matterhorn nur zur Hälfte zur Schweiz gehört. «Man kann es drehen wie man will: Neutralität bedeutet, dass sich jemand in einen Konflikt nicht einmischt, sondern heraushält. Unparteilichkeit ist ihr Wesensmerkmal», schreibt Widmer. Die Schweiz dürfe sich deshalb nicht zum Richter der Weltpolitik aufschwingen: «Die Propagandisten einer aktivistischen Neutralität sollten vom hohen Sockel moralischer Überlegenheit herunterkommen. Niemand wartet auf das Urteil der Schweiz.» Widmer betont: «Die Neutralität besitzt nur ein Kapital, nämlich die Glaubwürdigkeit. Diese muss man im Frieden mit einer berechenbaren Politik erwerben, um sie im Krieg zu besitzen.» Ein neutraler Staat müsse sich deshalb aus freiem Willen mehr Zurückhaltung auferlegen, als das Neutralitätsrecht gebietet. «Das hört sich leicht an, ist es aber nicht.»

Ganz besonders gilt das in Bezug auf den Überfall Russlands auf die Ukraine. Widmer macht aus seiner Meinung keinen Hehl: Er findet, der Bundesrat habe zu Unrecht die Neutralität der Schweiz aufgehoben. «Wenn Präsident Wladimir Putin und Präsident Joe Biden, wenn die russischen Staatsmedien und die freien Medien in den USA zur Ansicht gelangen, die Schweiz hätte in diesem Konflikt ihre Neutralität aufgegeben, dann lief etwas falsch.» Widmer fragt deshalb: «Ist der Schweiz der Mut zum Anderssein abhandengekommen?»

Aber was sollen wir dann tun? Sollen wir alle die Augen verschliessen vor dem Unrecht, das in der Ukraine geschieht? Nein, sagt Widmer, wir sollten «stärker zwischen Staat und Gesellschaft unterscheiden». Der Staat decke nicht den gesamten Gestaltungsraum der Gesellschaft ab, und umgekehrt verpflichte nicht alles, was die Gesellschaft unternimmt, den Staat. «Ausser in totalitären Gebilden sind Staat und Gesellschaft nicht deckungsgleich.» Der Bundesrat müsse sich neutralitätskonform verhalten. «Die Gesellschaft ist freier. Wir kennen keine Gesinnungsneutralität. Niemandem käme es in den Sinn, den Schweizern Vorwürfe zu machen, weil sie in einer mächtigen Sympathiewelle die Ukrainer tatkräftig unterstützten», schreibt Widmer. Gerade ein Land wie die hätte «allen Grund, den Unterschied von Staat und Gesellschaft stärker hervorzuheben. Ihre Demokratie ist konsequent von unten her aufgebaut, die Staatsgläubigkeit der Bevölkerung hält sich immer noch in Grenzen, und das Vertrauen in die Eigenverantwortung der Gesellschaft ist stärker ausgeprägt als in anderen Staaten.» Das verschaffe der Gesellschaft Gestaltungsmöglichkeiten.

Ein spannendes Buch, dessen Lektüre sich auch dann lohnt, wenn Sie nicht gerade an einer Erst-August-Rede schreiben.

Paul Widmer: Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr. NZZ Libro, 128 Seiten, 24 Franken; ISBN 978-3-907396-40-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783907396407

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