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Die psychotische Gesellschaft

Publiziert am 24. Juli 2019 von Matthias Zehnder

Wovor haben Sie Angst? Sind es eher die Flüchtlinge oder die Klimakatastrophe? Der Verlust der Privatsphäre in der digitalen Welt oder die Überwachung durch die NSA? Vor Selbstmordattentätern, Amokläufern oder Gotteskriegern? Sicher ist: In der Gesellschaft machen sich Unbehagen, Angst und Ohnmacht breit, begleitet von einem Gefühl der Dringlichkeit, Sorge und Verzweiflung. Und viele Ängste sind berechtigt, denn die Folgen der Katastrophen sind deutlich: das Erstarken nationalistischer Kräfte, die Verachtung für alle, die angeblich nicht dazugehören, die Suche nach Abgrenzung und eigener Identität. Ariadne von Schirach stellt deshalb fest: Auf vielen zunächst ganz unterschiedlich scheinenden Ebenen stellen sich Fragen danach, wer wir sind, wer wir sein wollen und wie wir gut miteinander und mit allem, was ebenfalls ist, zusammenleben können. Doch bis wir sie beantworten können, erinnert diese allgemeine Auflösung, die zugleich eine Auflösung des Allgemeinen ist, stark an das Krankheitsbild einer Psychose. Eine Psychose, das ist eine Erkrankung des Geistes, ein innerer Ausnahmezustand. So lange er dauert, verliert der Betroffene den Kontakt zur Realität. Die Grenzen zwischen Ich und Welt verschwimmen und die eigene Identität wird dadurch ebenso instabil wie total.

Im Kern jeder psychotischen Erfahrung steht ein umfassender Realitätsverlust. Dazu kommen Symptome wie Erregungszustände, aber auch Wahnideen und mangelnde Krankheitseinsicht. «Der psychotische Mensch hat seinen Geist und sein Urteilsvermögen verloren, sein Leben ist ihm fremd geworden», schreibt Ariadne von Schirach. «Begleitet wird dieser Selbst- und Weltverlust von Angst angesichts der inneren Auflösung und Ohnmacht angesichts der Unfähigkeit, selbst etwas daran zu ändern.» Diese Sätze beschreiben recht genau, was auf gesellschaftlicher Ebene im postfaktischen Zeitalter passiert: ein fundamentaler Zweifel an der Wirklichkeit ebenso wie an ihrer medialen Vermittlung. Was ist wahr, was ist falsch, und wem soll man noch glauben? Es gibt immer mehr News, die Interesse und Empörung schnell entzünden und noch schneller wieder abflammen lassen. «Diese kollektiven Erregungszustände sind ebenso allgegenwärtig wie folgenlos, weil alles, was sie zum Inhalt haben, angesichts stetig nachdrängender News keinen Raum mehr hat, aufgenommen und eingeordnet, geschweige denn irgendwie verarbeitet zu werden.» Deshalb haben es auch auf kollektiver Ebene Wahnideen leicht, sich auszubreiten, von ominösen Verschwörungstheorien über abstruse, oft nationalistisch, rassistisch oder sexistisch Privatideologien bis hin zu bösartigen Verleumdungen, die vor allem in den sozialen Netzwerken fast ungebremst verbreitet werden können. Für Ariadne von Schirach ist deshalb klar: Wir leben in einer psychotischen Gesellschaft. Sie belegt ihre Diagnose auf  interessante Art und Weise – und weist uns einen schönen, einen poetischen Ausweg aus der Psychose. Ein spannendes Buch!

Ariadne von Schirach: Die psychotische Gesellschaft. Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden. Tropen, 260 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-608-50233-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783608502336

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