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Die Psyche des Homo Digitalis

Publiziert am 9. Februar 2023 von Matthias Zehnder

«Neurose» bedeutet wörtlich nichts anderes als Nervenkrankheit: Ein neurotischer Mensch ist emotional labil und seinen (negativen) Gefühlen ausgeliefert. Umgekehrt verfügt ein nicht neurotischer Mensch über emotionale Stabilität, Zufriedenheit und Ich-Stärke. Ursprünglich ging es bei der Behandlung von Neurosen darum, alten vergessenen oder verdrängten Konflikten auf die Spur zu kommen, sie zu erinnern und zu verarbeiten. Heute, sagt Johannes Hepp, gehe es in seiner Praxis immer häufiger um «Abhängigkeiten, Süchte, Beziehungsängste, Kontrollzwänge, verzerrte Körperbilder, tägliches (Cyber)Mobbing» und viele andere Auswirkungen der digitalen Technik. «Gegenwartsneurosen» nennt Hepp diese Erscheinungen. Dabei geht er, wie er selbst sagt, sehr frei um mit dem Begriff der Neurose: Er bezeichnet verschiedene pathogene psychische Ausprägungsformen so, auch wenn es eher Persönlichkeitsstörungen sind. Sicher ist: Es sind Auswirkungen der digitalen Techniken (und vor allem der Digitalwirtschaft) des 21. Jahrhunderts. Hepp führt deshalb in seinem Buch durch 21 solcher Neurosen der Gegenwart. Geordnet sind die Neurosen in drei grossen Bereichen: Liebe (respektive Hass) als Summe unserer Beziehungen, Arbeit im Sinne eines würdevollen und produktiven Lebens sowie Sinn als Folge eines gelungenen und erfüllten Lebens. Für Hepp sind das «die grossen Fragen und Herausforderungen des neuen Jahrtausends, zumindest meiner Meinung und meiner Einschätzung nach, wenn ich meine Patientinnen und Patienten der letzten zehn Jahre vor meinem geistigen Auge Revue passieren lasse.» Man muss das Buch nicht von vorne bis hinten lesen, es ist so geschrieben, dass man bei einer beliebigen Neurose einsteigen kann. Hepp ermuntert den Leser, das auch zu tun: «Ihr Unbewusstes weiss meist schon vor Ihnen, was Sie dringend lesen sollten.»

Das Spiel mit dem Begriff der Neurose tut dem Buch nicht nur gut. Wörter wie «Profilneurose» sind noch verständlich. Bezeichnungen wie «metrische Neurose» verhüllen eher, was gemeint ist. Zum Glück zählt Hepp die beschriebenen Extremzustände der Menschen im 21. Jahrhundert auch in anderen Worten. Im Bereich «Liebe» geht es dabei um Internetsucht, Geltungssucht, Dauerverliebtsein, Vereinsamung, Maschinenliebe, Bewertungszwänge und den Erziehungswettstreit. Am Ende geht es dabei immer um Liebe und um Wertschätzung, die sich aber teilweise so einseitig auf die digitale Welt (oder digitale Rückbestätigung) ausrichtet, dass die Suche nach dieser Art von Liebe schädlich (oder eben: neurotisch) wird.

Im zweiten Teil, der sich um die «Arbeit 4.0» dreht, geht es um die Selbstausbeutung, Hass und Kompromisslosigkeit, die Erfahrungsgier, um die Sucht nach Ranking und die Steigerungslogik (es ist das, was Hepp «metrische Neurose» nennt), um Ruhm und den Zwang zur Einzigartigkeit, um Doping und das Vollkommenheitsstreben und schliesslich um das Aussteigen, also um Weltflüchte und Sehnsüchte, um die Cyber-Fugitive.

Neu war mir in diesem Set vor allem die Erfahrungsgier. Hepp nennt es die «immoderate Neurose». Eine solche Neurose hat, wer «nie genug bekommt, unbescheiden und masslos ist, wer auch noch alle alternativen Genüsse und Erfahrungen mitnehmen will und sich niemals mit dem be­­gnügt, was er hat.» Unersättliche Zeiten gab es auch schon. Hepp nennt die Zeit zwischen den Weltkriegen, die bei uns als «goldene Zwanzigerjahre» bekannt sind. Anders als vor hundert Jahren bekommen wir heute aber in Echtzeit mit, was die Freundinnen (echte und digitale) und Bekannte gerade erleben – oder auch nur vorgeben, zu erleben. «Es ist letztlich einerlei», schreibt Hepp, «denn wir erleben zumeist gerade etwas ganz anderes und in aller Regel weniger Spannendes. Es wirkt, als hätten die digitalen Nomaden so gut wie immer frei, selbst dann noch, wenn sie zu arbeiten scheinen.»

Der dritte Teil widmet sich den Sinnfragen: der Lüge und der Halbwahrheitsliebe, den Verschwörungen und Verteufelungen, der Hilflosigkeit und den Zukunftsängsten, dem Gewissen und der Perfektion der Macht, den entmenschlichten Helden, dem Altern und damit auch der Verbitterung und schliesslich dem Glauben und damit dem Ewigkeitsversprechen. Schön ist, dass uns Johannes Hepp mit all den Ängsten und Neurosen nicht alleine lässt. Er schliesst jedes Kapitel mit der Frage: Was können wir dagegen tun? Die Ratschläge sind zuweilen etwas banal, aber sehr konkret. Etwa: «Wir sollten einen Sinn im Leben und nicht im Netz suchen und finden.» Das Problem dürfte sein, dass im 21. Jahrhundert dieses Netz zum Leben dazugehört. Denn schwieriger als etwas ganz zu entsagen, ist es, Mass zu halten. Trotzdem: Ein interessantes Buch, dass dem Unbehagen, das uns angesichts der ganzen Masslosigkeit des Digitalen wohl alle befällt, Ausdruck und Worte gibt.

Sachbuch:

Johannes Hepp: Die Psyche des Homo Digitalis. 21 Neurosen, die uns im 21. Jahrhundert herausfordern. Kösel, 416 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-466-34791-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783466347919

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