Buchtipp

Nächster Tipp: Das Patriarchat der Dinge
Letzter Tipp: In die Politik gehen. Tipps für den Nachwuchs

Die neue Einsamkeit

Publiziert am 18. März 2021 von Matthias Zehnder

Einsamkeit weitet sich aus wie eine Epidemie: Etwa jede und jeder Sechste ist davon betroffen. Spätestens seit Corona ist das Gefühl der Isolation zum globalen Status quo geworden. Doch Einsamkeit ist nichts Neues. Es ist ein altes Thema. «Der Zustand der Einsamkeit», so schreiben Diana Kinnert und Marc Bielefeld, könne «ein guter sein, ein schlechter, er kann beflügeln und bedrücken.» Einsamkeit am paradiesischen Strand kann wunderbar sein. Einsamkeit kann mit lustvoller Entdeckung zu tun haben, mit Reizreduktion, Einkehr und Kontemplation. Einsamkeit kann aber auch Verlassenheit aus Abgeschiedenheit oder Ausgrenzung sein. Diese unerwünschte Einsamkeit meinen Menschen, wenn sie darunter leiden. Die Zahl der so begriffenen Einsamen sei doppelt so hoch wie die der Diabetiker und weit höher auch als jene der Herzkranken und sogar gut siebenmal höher als die der Demenzkranken. Mit dieser Einsamkeit bezeichnen die Forscher einen Zustand, der nicht nur traurig und bemitleidenswert ist, sondern der sogar krank macht.

Unsere Städte vermitteln zwar das Bild eines herrlichen Durcheinanders, eines erstaunlichen Miteinanders. «Aber ist es das wirklich?», fragen Diana Kinnert und Marc Bielefeld. «Leben wir wirklich noch die Idee des Gemeinwesens, so wie es die verdichtenden Räume von Gemeinden, Landkreisen, Kommunen und Städten eigentlich verlangen? Sind wir wirklich auch so verbunden, wie es uns das Internet, die sozialen Medien gern suggerieren? Sind wir die Community, die uns das World Wide Web so lieblich verheisst? Und bilden wir am Ende wirklich noch die Gesellschaft, wie sie in der Soziologie definiert ist: Sind wir eine durch unterschiedliche Merkmale zusammengefasste Anzahl von Personen, die als sozial Handelnde miteinander verknüpft leben und direkt oder indirekt sozial interagieren?»

Ihre Diagnose: Nein. Die verbindenden Elemente sind uns abhandengekommen. Immer mehr fehlen uns gemeinsame Themen. Wir sitzen in unterschiedlichen Blasen und sind, auch wenn wir zusammen sind, doch nur zusammen allein. Die beiden Autoren nennen es das «Pippi-Langstrumpf-Syndrom»: «Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt. Nur dass Pippi Langstrumpf in der Villa Kunterbunt wohnte und nicht im vollvernetzten und durchglobalisierten dritten Millennium.»

Wir sind trotz oder gerade wegen der omnipräsenten Kommunikationstechnologien haltlos auseinanderindividualisierte Menschen geworden, die am Ende ziemlich allein dastehen. Allein – oder besser: Vereinzelt.

Ausgerechnet die Mobiltelefone, ersonnen als ultimative Verbindungsautomaten, sind in diesem Prozess zu alternativlosen Katalysatoren geworden: Zu Vereinzelungsapparaten erster Güte. «Und wir alle sind jeden Tag Zeuge davon – meist selbst als emsige Nutzer.» Es sei «erstaunlich und klingt paradox. Doch trotz nie dagewesener Möglichkeiten der Kommunikation, trotz immer neuer Kanäle des rasenden Austauschs scheint das vermeintliche Miteinander zunehmend zu einem systematischen Auseinander zu führen. Als ob uns im Beliebigen das Verbindende und Verbindliche abhandenkommt.»

«Die neue Einsamkeit» ist nicht nur ein spannendes und einleuchtendes Buch, es ist auch so gut geschrieben, dass nach meiner Lektüre in manchen Kapiteln mehr als die Hälfte des Textes markiert war. Lesen!

Diana Kinnert, Marc Bielefeld: Die neue Einsamkeit. Und wie wir sie als Gesellschaft überwinden können. Hoffmann und Campe, 448 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-455-01107-4

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783455011074

Wenn Sie das Buch lieber digital für Ihren Amazon Kindle beziehen möchten, klicken Sie hier: https://amzn.to/3tDIJiv

Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps samt Link auf den zugehörigen Wochenkommentar finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/