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Die Kanzlerin am Dönerstand

Publiziert am 2. Dezember 2021 von Matthias Zehnder

In ein paar Tagen hat Angela Merkel ihren letzten Arbeitstag als Bundeskanzlerin: Voraussichtlich am nächsten Mittwoch wird Olaf Scholz (SPD) vom deutschen Bundestag zu ihrem Nachfolger gewählt. Wenn Sie sich über Angela Merkel noch einmal informieren möchten, sagt dieses Buch von Torsten Körner mehr als manch dicker Politwälzer. Es versammelt Anekdoten und kleine Geschichten aus dem Leben einer Frau, die hinter ihrer Funktion längst verschwunden ist. Mindestens aus Schweizer Distanz ist die Bundeskanzlerin als Mensch kaum zu fassen. Da ist fast jeder Blick hinter die Kulisse von Hosenrock und Raute schon eine Offenbarung. Dazu kommt ein Aspekt, der uns in der Schweiz vom Radar gefallen ist: Angela Merkel stammt aus Ostdeutschland. Sie ist zwar 1954 in Hamburg geboren, doch einige Wochen nach ihrer Geburt siedelten ihre Eltern in die DDR über. Als die Mauer fiel, war Angela Merkel 35 Jahre alt. Ihre Generation wurde durch die Wiedervereinigung zu einem Neuanfang gezwungen. Eindrücklich schildert das eine Geschichte über eine Ausgabe der Fernsehsendung «Klassentreffen» mit Showmaster Wim Thoelke. Das Konzept dieser Show sah vor, dass ein Prominenter auf ehemalige Klassenkameraden trifft und man vergnügt alte Schulkamellen austauschte. Wim Thoelke spielte quasi den Lehrer, der Promi und seine Mitschüler nahmen in Schulbänken Platz. Im Frühling 1992 war das die damalige Bundesministerin für Frauen und Jugend Dr. Angela Merkel und ihre Mitschüler aus der zwölfte Klasse der Erweiterten Oberschule «Hermann Mattern» in Templin. Torsten Körner schreibt: «Je länger dieses Klassentreffen dauert, desto deutlicher wird, dass Thoelke der Schüler ist und die vermeintlichen Schüler seine Lehrer.» Der Showmaster aus dem Westen hat zum ersten Mal eine Klasse aus dem Osten vor sich, eine Klasse, die nach dem Mauerfall gezwungen wurde, noch einmal von vorne zu beginnen, sich erneut zu bewähren, zu qualifizieren. «Und da sitzt eine Ministerin inmitten ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler, die von Amts wegen damit befasst ist, auch ihre Lebensbedingungen zu verbessern, und sich zugleich eingestehen muss, wie schwer das ist und wie ohnmächtig sie sich mancher Aufgabe gegenübersieht.» Ja, Angela Merkel ist in der DDR aufgewachsen. Das Bild, das sie sich vom Westen machte, stammte in ihrer Jugend aus dem «Tatort». Angelas Familie besass früh ein Fernsehgerät und der «Tatort» gehörte zum Pflichtprogramm. Körner erzählt, wie die spätere Kanzlerin als junge Physikerin anlässlich der Heirat einer Cousine einmal in den Westen reisen darf und da in einem Hotel übernachtet. Einem Hotel, wie es im «Tatort» vorkommt: Da sterben die Mordopfer in düsteren Hotelzimmern. Misstrauisch fragt die ostdeutsche Frau daher an der Rezeption, ob es denn für eine allein reisende Frau sicher sei, ohne Begleitung in einem Hotel zu übernachten. Auch heute noch gehöre der «Tatort» zu den Konstanten in Angela Merkels Leben. «Wenn es die Zeit erlaubt, ist die Bundeskanzlerin am Sonntagabend mit dem Fadenkreuz verabredet.» Aber – das ist der Unterschied – heute haben Mord und Verbrechen im «Tatort»-Format eher die Wirkung von Kamillentee für die Kanzlerin.

Und dann hat es natürlich auch unterhaltsame Schmonzetten im Buch. Etwa die Geschichte einer bekannten Virologin, die zum Beraterkreis um Merkel gehört. Sie steht am Hauptbahnhof in Hannover, als ihr Handy klingelt. Die Kanzlerin will von ihr wissen, wie sich die Corona-Situation präsentiert. Torsten Körner erzählt: «Die Virologin ist kaum eingestiegen und hat sich einen ruhigen Winkel zum Telefonieren gesucht, als sich plötzlich der Schaffner nähert. Die Virologin hat die Kanzlerin am Ohr, zwei Taschen über der Schulter, die Fallzahlen steigen, die zweite Welle rollt, der Zug auch.» Und jetzt soll sie ihre Fahrkarte zeigen. Der Schaffner ist unerbittlich, selbst dann, als die Virologin ihm das Handy hinhält und zeigt, mit wem sie da telefoniert. Die einzige, die es ruhig nimmt, ist die Kanzlerin: «Na, wir waren ja auch so gut wie fertig, Frau Professor!».

Der Titel übrigens bezieht sich auf ihren Lieblings-Dönerstand im Regierungsviertel. Der Chef berichtet, dass die Bundeskanzlerin stets ohne Aufhebens kommt. Ein Leibwächter bleibe vor der Tür, die Kanzlerin stelle sich in die Schlange, warte geduldig. «Sie nimmt immer Döner ohne Zwiebeln und Sosse. Sie sei eine Frau, die vor ihrem Volk keine Angst habe. Was, fragt sich der Chef, sind das für Herrscher, die Angst haben vor ihrem Volk? Die alles absperren? Die in riesigen Palästen wohnen?», fragt im Buch der türkische Inhaber des Dönerstands und ergänzt: «Sie will kein Pascha sein, die lässt sich nicht bedienen.»

Im Buch kommt auch vor, wie sich Angela Merkel dazu entschlossen hat, bei einem Experiment von Fotografin Herlinde Koelbl mitzumachen: Zwischen 1991 und 1998 porträtiert Koelbl fünfzehn Menschen auf dem Weg zur Macht und beobachtet, wie «Ämter dem Menschen ihren Prägestempel aufdrücken, wie sich der Stress in die Gesichter fräst, wie der Leib schwillt oder schrumpft und die Schatten unter den Augen immer dunkler und abgründiger werden.» Unter den fünfzehn Politikern ist auch Angela Merkel. Herlinde Koelbl hat die Arbeit mit Angela Merkel im Geheimen bis 2021 weitergeführt. 30 Jahre lang hat sie Merkel fotografiert – dieser Tage ist der Bildband jetzt erschienen. Torsten Körner schreibt darüber: «Merkel wächst durch die Jahre. Sie streift die Physikerin ab, die Pfarrerstochter, das Studentische, das Mädchen, die Novizin, den Mantel des Kanzlers, sie streift das alles ab, die Lippen werden voller, sie leistet sich für die Kamera Momente von Machtgenuss.» Im Buch von Torsten Körner ist dieser Prozess erlebbar durch seine Anekdoten und kleinen Geschichten. Sie machen den Menschen hinter der Raute fassbarer. 

Torsten Körner: Die Kanzlerin am Dönerstand. Miniaturen aus dem Leben von Angela Merkel. Kiepenheuer & Witsch, 304 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-462-00173-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783462001730

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