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Die Illusion der Vernunft

Publiziert am 21. Dezember 2022 von Matthias Zehnder

Wie kommt das Bild, das wir uns von der Welt machen, in unser Gehirn? Sicher ist: Es ist kein passiver Vorgang, bei dem ein Bild der Aussenwelt ins Gehirn dringt. Das Gehirn konstruiert aus den verfügbaren Sinnesdaten eine Wahrnehmung. Und diese Konstruktion ist sehr individuell. Deshalb kommt es, dass Menschen, aus welchen Gründen auch immer, ungeachtet der verfügbaren Fakten und gegen jede Wahrscheinlichkeit, mit unerschütterlicher Gewissheit auf ihren Überzeugungen beharren. Sie sind deswegen nicht verrückt – oder nicht verrückter als wir alle. Wenn wir uns dessen bewusst werden, dass wir alle unsere Welt nur in unseren Köpfen zusammenkonstruieren, sollten wir etwas eher bereit werden, diese Konstruktion (also unsere Überzeugungen) zu hinterfragen. Das würde wesentlich zum Frieden auf der Welt beitragen, ist Philipp Sterzer überzeugt.

Es ist ein Phänomen, das Philipp Sterzer schon seit Langem fasziniert und gleichzeitig tiefe Besorgnis auslöst: dass Menschen, aus welchen Gründen auch immer, ungeachtet der verfügbaren Fakten und gegen jede Wahrscheinlichkeit, mit unerschütterlicher Gewissheit auf ihren Überzeugungen beharren. Zum Problem wird das, weil die Menschen bekanntlich friedlich miteinander zusammenleben sollten. «Wie gut uns das als Gesellschaft gelingt, hängt entscheidend davon ab, welches Bild wir uns von der Wirklichkeit machen», schreibt Sterzer. «Denn davon hängt wiederum ab, wie wir unser Zusammenleben gestalten: welche Regeln wir aufstellen, wie wir Entscheidungen treffen, die für uns als Gesellschaft, aber auch für jede Einzelne und jeden Einzelnen als Teil dieser Gesellschaft relevant sind.»

Schwierig wird es, wenn Mitglieder einer Gemeinschaft sich nicht darüber einigen können, was wahr ist und was nicht. Jenseits vergleichsweise abstrakter Fragen wie der, ob es einen Gott gibt und wie die Welt oder der Mensch entstanden ist, gibt es zahlreiche Themen, die für die konkrete Gestaltung unseres Zusammenlebens im Hier und Jetzt von grosser praktischer Bedeutung sind. Gibt es den Klimawandel, und wenn ja, ist er menschengemacht? «Von unseren Antworten auf solche Fragen hängt für uns alle eine Menge ab. Wenn Menschen sich in solchen Fragen nicht einigen können, weil alle unbeirrbar an ihren Überzeugungen festhalten, und wenn daran dringend erforderliche Lösungen für die drängenden Probleme unserer Zeit scheitern, dann haben wir allen Grund zur Besorgnis», schreibt Sterzer

Das Problem ist dabei: Wir alle machen uns unser eigenes Bild von der Welt. Es ist unser ganz eigenes, individuelles Bild von der Welt. Unser Bild der Welt entsteht in unserem Gehirn. Natürlich tauschen wir uns darüber aus, deshalb gibt es viele Übereinstimmungen in den Bildern, die jede und jeder Einzelne von uns sich von der Welt machen. Trotzdem ist es am Ende ein individuelles Bild.

Das führt Sterzer zur zweiten grossen Faszination: der Faszination über die Subjektivität der Wahrnehmung. Und die ist nicht stabil. So gibt es zum Beispiel Rhythmen, die sich als Dreiviertel- oder Viervierteltakt wahrnehmen lassen, und visuelle Phänomene, die sich unterschiedlich wahrnehmen lassen. Diese Phänomene zeigen, dass Wahrnehmung kein passiver Vorgang ist, bei dem ein Bild der Aussenwelt ins Gehirn dringt. Das Gehirn konstruiert aus den verfügbaren Sinnesdaten eine Wahrnehmung.

Philipp Sterzer begann, sich wissenschaftlich mit der Frage zu beschäftigen, wie unser Gehirn unsere Wahrnehmung konstruiert. Damit wuchs auch sein Interesse an psychischen Erkrankungen, zu deren Symptomen Veränderungen der Wahrnehmung gehören. Erkrankungen, bei denen sich das Bild der Welt, das in den Köpfen der Betroffenen entsteht, von der Wirklichkeit entkoppelt, sodass diese Menschen von anderen als «verrückt» bezeichnet werden. Eine solche Erkrankung ist Schizophrenie. Allerdings lässt sich zwischen der Hirnfunktion von Gesunden und derjenigen von Menschen, die beispielsweise an einem Wahn leiden, keine klare Grenze ziehen. «Das ist eigentlich auch nicht weiter verwunderlich, wenn wir bedenken, dass auch viele Gesunde Überzeugungen hegen, die mit der Realität wenig zu tun haben, die sich aber selbst durch offenkundige Fakten nicht korrigieren lassen», schreibt Sterzer. Anders gesagt: «Entkoppelung von der Realität ist kein Alles-oder-nichts-Phänomen, denn ein Stück weit sind wir alle von der Realität entkoppelt.»

Aber wie genau entstehen die Überzeugungen in unseren Köpfen? Sterzer argumentiert, dass eine einfache Einordnung von Überzeugungen in dichotome Kategorien wie «normal» und «verrückt» weder theoretisch noch empirisch haltbar sei. In seinem Buch kombiniert er eine neurowissenschaftliche Perspektive mit Philosophie, Evolutionstheorie, Genetik, Sozial- und Kognitionspsychologie und mit der Psychiatrie. Die Kernthese ist dabei, dass Überzeugungen immer nur Hypothesen sein können. «Diese Hypothesen sind oft von grossem Nutzen für uns, denn sie ermöglichen es uns, Vorhersagen über die Ereignisse in der Welt zu machen, und erleichtern es uns, auf diese Ereignisse zu reagieren.» Aber es bleiben doch Hypothesen, also unbewiesene Annahmen.

Wenn wir uns dessen bewusst sind, sollte unsere Bereitschaft steigen, uns zu hinterfragen und eine offene Haltung gegenüber anderen Standpunkten einzunehmen. Das könnte zu einem kooperativen und friedlichen Zusammenleben in pluralen Gesellschaften beitragen. Spannend!

Philipp Sterzer: Die Illusion der Vernunft. Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten. Ullstein, 320 Seiten, 33.90 Franken; ISBN 978-3-550-20132-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783550201325

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