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Die ewige Supermacht

Publiziert am 7. April 2022 von Matthias Zehnder

Wer in Europa aufwächst, für den beginnt die Weltgeschichte im antiken Griechenland mit Homer, Aristoteles, Sokrates und Sophokles. Dazu kommen die klassischen, griechischen Sagen rund um Zeus und die Geschichte der Athener und die Wurzeln der Demokratie. Dann wechselt die Weltgeschichte ihren Fokus nach Rom, zur Erfindung des Rechtssystems und der Republik, von Cäsar und den Kaisern, Jesus und der Ausbreitung des Christentums. Es folgen der Aufstieg der Kirche, Karl der Grosse und das Heilige Römische Reich deutscher Nation, das Zeitalter der Entdeckungen,  Reformation, Renaissance und Aufklärung, schliesslich die industrielle Revolution. Dazu gibts die Gründung der Nationalstaaten, die Proklamierung der Menschenrechte, die Erfindung der Marktwirtschaft und des Individualismus. «Wir im Westen wissen, wie Cäsar starb, dass Napoleon sein Waterloo erlebte und Kolumbus übers Meer fuhr», schreibt Michael Schuman. «Wir haben das in der Schule, zu Hause oder im Fernsehen gelernt – ein grosser Teil der übrigen Welt jedoch nicht. Sie lernten woanders in der Schule eine andere Geschichte aus anderen Lehrbüchern». Andere Völker haben andere Mythen und Epen, andere Gebete und andere Götter. Sie eifern anderen Menschen nach, studieren andere Philosophen und sprechen über andere Kriege.» Kurz: Sie sehen die Welt aus einer ganz anderen Perspektive.

Das gilt in ausgeprägtem Mass für China. Für Chinesen hätte sich die Geschichte rund um Griechen und Römer, Jesus und Luther, Ilias und Hamlet «ebenso gut auf einem anderen Planeten abspielen können», schreibt Michael Schuman. Er schrieb als Asien-Korrespondent 23 Jahre lang für das «Wall Street Journal» und arbeitete für «Time», die «New York Times» und die «Business Week». Schuman lebt in Peking und kennt deshalb die chinesische Perspektive nicht nur aus Büchern. Er erzählt denn auch nicht einfach eine Geschichte Chinas, die aus Dynastien und Kriegen besteht. Er versucht, mit seinem Buch die chinesische Weltgeschichte als chinesische Weltsicht fassbar zu machen. Er erzählt Chinas komplexe Geschichte, berichtet von einflussreichen Denkern, der frühen Entwicklung der Wirtschaft und der Kultur. Er macht auf diese Weise mehr als deutlich: China hat sich immer als alleinige Weltmacht gesehen, nach der die anderen sich richten. Die letzten Jahrzehnte waren eine Ausnahme. Jetzt will China sein altes Ziel wieder erreichen. 

Die Chinesen haben ihre eigene Weltgeschichte, ihre eigenen Helden, ihre eigene Literatur, eigene Philosophen und Dichter, ihre eigenen grossen Schlachten, heroischen Momente, Katastrophe und Helden. «Und genau wie wir im Westen die Produkte unserer Weltgeschichte sind, sind die Chinesen ein Erzeugnis der ihren», schreibt Michael Schuman. In seinem Buch erzählt er deshalb die chinesische Version der Weltgeschichte. Es ist keine umfassende Geschichte Chinas mit allen Dynastien, Schlachten, Kriegen und politischen Veränderungen. Es ist vielmehr jene Geschichte der Welt, «die die chinesische Weltanschauung und, wichtiger noch, die chinesische Wahrnehmung von der eigenen Rolle innerhalb dieser Welt prägte».

Und das ist eine Geschichte, die wir im Westen kaum kennen. Das ist ein Manko, weil China auf der Weltbühne immer mächtiger wird. «Wir neigen dazu, China durch die Brille unserer eigenen Weltgeschichte zu betrachten.» Das führt dazu, dass viele Politiker, Diplomaten und Journalisten in Washington, London oder Paris darüber nachdenken, wie China am besten in unsere Welt passt. Doch die Chinesen sehen das völlig anders: «Sie haben ihre eigenen Vorstellungen, wo sie in der Welt hingehören und wie die Welt aussehen sollte, basierend auf ihrer eigenen Geschichte – noch dazu einer sehr langen.» Michael Schuman ist überzeugt: «Nur wenn wir diese chinesische Geschichte der Welt kennen, können wir das heutige China verstehen.»

Die grosse Frage lautet heute: Was will China? Was will China vor dem Hintergrund des eigenen Weltbilds? Schuman antwortet darauf: «China will das, was es immer wollte. China war in seiner Geschichte so gut wie immer eine Supermacht – und es will wieder eine Supermacht sein.» Natürlich seien die Ziele der heutigen politischen Führer Chinas nicht dieselben wie im Jahr 1000 vor Christus. «Nichtsdestotrotz gibt es einige verblüffende Übereinstimmungen in der Haltung Chinas gegenüber der Welt quer durch den Verlauf seiner Geschichte». Aus ihrer Perspektive haben die Chinesen ein Anrecht darauf, eine führende Weltmacht zu sein. Sie wollen deshalb auf den ihnen gebührenden Platz an der Spitze der Weltordnung zurückkehren.

Tatsächlich war China die längste Zeit seiner Existenz, wie Schuman schreibt, «die grösste, bedrohlichste, reichste und fortschrittlichste Zivilisation Ostasiens». Die Chinesen hätten schon erlesene Dichtungen verfasst, «ehe ihre Nachbarn überhaupt schreiben konnten». Die Chinesen seien «Pioniere bei der Staatenbildung, bei technologischen Innovationen, in der Philosophie, Literatur und Wirtschaftsorganisation» gewesen. Und so, wie für uns Europa die Welt war, war für die Chinesen diese chinesische Welt die Welt: «Sie wussten zwar von anderen grossen Zivilisationen weit jenseits ihrer Grenzen – den Römern, Persern, Indern – und respektierten sie häufig auch, doch diese Gesellschaften waren viel zu weit entfernt». China fühlte sich durch sie nie infrage gestellt. Vermutlich bis heute nicht.

Das gilt auch und gerade für die Wirtschaft. Europa und Amerika neigen dazu, sich als Zentrum der Weltwirtschaft zu betrachten. Doch China war das Herz eines globalen Wirtschaftssystems, das bereits existierte, bevor die Portugiesen, Niederländer und Briten die Kontrolle über den Ost-West-Handel übernahmen. «Selbst Jahrhunderte nach dem Aufstieg Europas behielt China seine Stellung als erstrangige Volkswirtschaft und treibende Kraft des weltweiten Wachstums und Handels», schreibt Schuman. Ein Grund dafür ist die schiere Grösse des Landes: Es ist nicht nur ein riesiger Verbrauchermarkt, es verfügte auch über eine konkurrenzlose Kapazität, Waren zu produzieren. «Wir staunen heute über das Ausmass der chinesischen Produktion, als wäre das etwas Neues; in Wirklichkeit ist es lediglich eine Rückkehr zum Normalzustand. China war schon zur Zeit der alten Römer ein Herstellungszentrum.» 

Ein spannendes Buch, das (uns Europäer) mit einer völlig neuen Perspektive konfrontiert und dem einen oder anderen die Augen öffnen dürfte.

Michael Schuman: Die ewige Supermacht. Eine chinesische Weltgeschichte. Propyläen, 512 Seiten, 37.90 Franken; ISBN 978-3-549-10036-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783549100363

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