Buchtipp
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Die Diktatur der Wahrheit
«Querdenken» ist eigentlich eine Denkmethode, die als Kreativitätstechnik zur Lösung von Problemen oder zur Ideenfindung eingesetzt wird. In der Coronakrise hat das Wort eine neue Bedeutung erhalten: Querulanten, die sich gegen Wissenschaft und Massnahmen stellten, bezeichneten sich selber als Querdenker. In diesem Buch geht Steffen Greiner historischen Querdenkern nach. Den Anstoss dazu haben die seltsamen Mischungen an den Corona-Demonstrationen gegeben. Da protestierten Kiffer mit Dreadlocks neben rechtsnationalen Glatzköpfen – ganz Links und ganz Rechts vereinte sich plötzlich im verqueren Protest. Greiner zeigt, dass das nichts Neues ist: Historisch haben sich Linke und Rechte immer wieder zusammengetan, als würden sie selbstverständlich zusammengehören. Der Blick zurück zeigt: «Hippies und Nazis, ja, das geht, das ist nicht einmal selten. Es gibt eine Geistesgeschichte sozialanarchischer Strömungen von rechts.» Diese queren Mischungen finden sich laut Greiner bei den frühen Grünen und in zahlreichen antimodernistischen Tendenzen der historischen Hippies. Ihren Ausgangspunkt haben all diese Bewegungen in der sogenannten Lebensreform des späten 19. Jahrhunderts, einem Konglomerat von Strömungen, die bis heute wirken, die sich um die Utopie des guten Lebens drehen, bei Vegetarismus und neue Mode beginnen, aber die Reinheit gleichzeitig dorthin drehen, wo sie bedrohlich wird, wo es darum geht, das Andere draussen zu halten.
Eigentlich sagt es schon der Name «National-Sozialisten»: In dieser Selbstbezeichnung verbinden sich die Linke und die Rechte. Es ist ursprünglich der Versuch, «das emanzipative Element des Sozialismus in eine homogene, klassenlos gedachte Volksgemeinschaft zu überführen», schreibt Greiner. Die frühe SA habe sich dezidiert als antikapitalistisch verstanden – und im Antisemitismus ein Element gefunden, «auf das sich linke wie rechte Kapitalismuskritik immer verlässlich stützen konnte». Auch in den 70er Jahren haben Neonazis versucht, «über das gemeinsame Ziel – den Sturz der bürgerlichen Ordnung – Verbündete auf Seiten der Punks und Linksautonomen zu finden».
Den Anfang dieses Querdenkens sieht Steffen Greiner in den 1920er-Jahren bei Männern wie Louis Haeusser, einem Wanderprediger und Politik-Aktivisten, bei Gusto Gräser, einem Künstler und Aussteiger und bei Max Schulze-Sölde, einem Maler und selbst ernannten Heiligen. Später werden diese Wanderheiligen, Naturmenschen und Naturpropheten auch «Inflationsheilige» genannt. Insbesondere während der Inflation hatten apokalyptische Gruppen und Kulte in Deutschland viel Zulauf. Von diesen «spirituellen Querfronten» zieht Steffen Greiner eine grosse Diagonale in unsere Zeit zu Coronaleugnern, QAnon-Jüngern und Reichsbürgern, zu Anti-Mainstream-Aktivisten, Lügenpresse-Skandierern und Verschwörungstheoretikern. Die Reduktion komplexer politischer Systeme auf einen symbolischen Ausdruck sei in ihrem Kern totalitär. «Gerade insofern sie diese Sehnsucht nach Masse in eine Rhetorik von einem zentralen, maximal autonomen Ich denkt, erscheint sie mit Haeusser und den Inflationsheiligen verwandt», schreibt Greiner. «Darum schlage ich vor, die Lebensreform und die Inflationsheiligen als die Ursuppe einer besonderen Art der Querfront zu verstehen, die unterhalb der Flügelkämpfe stets schwappte und jetzt die Hauptrolle übernimmt: einer spirituellen.» Greiner postuliert also «spirituellen Querfronten», deren Wurzeln bis in die 20er Jahre reichen und letztlich Ausdruck eines besonderen Bedürfnisses der (deutschen) Gesellschaft seien. Eine spannende These.
Steffen Greiner: Die Diktatur der Wahrheit. Eine Zeitreise zu den ersten Querdenkern. Tropen, 272 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-608-50017-2
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783608500172
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