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Der Putsch. Hitlers erster Griff nach der Macht
Vor 100 Jahren, im November 1923, stand die Demokratie in Deutschland am Abgrund: Adolf Hitler und Erich Ludendorff riefen in München mit ihrer NSDAP den Putsch aus. Auf den ersten Blick sieht es nach einem «Operettenputsch» aus: Hitler stürmt im Regenmantel mit Gleichgesinnten den Bürgerbräukeller, schiesst mit seiner Pistole in die Decke und erklärt die Regierung der Weimarer Republik in Berlin für abgesetzt. Keine 24 Stunden später löst die Polizei mit scharfen Schüssen einen Marsch von einigen Tausend Getreuen auf das Regierungsgebäude auf. Anderthalb Dutzend Tote und tödlich Verletzte bleiben auf dem Pflaster liegen. Hitler selbst kommt nur knapp mit dem Leben davon. Er flüchtet, wird später verhaftet und zu Festungshaft verurteilt. In der Haft schreibt er dann «Mein Kampf». Es ist eine seltsame Geschichte, die sich am 8. und 9. November 1923 abspielt. Die Zeitungen schreiben von einer «Zirkusszene», einer «Hanswurstiade», einem «Spuk», sie bezeichnen den Vorgang als «jämmerlich»und die Akteure als «Dilettanten der schlimmsten Sorte». Selbst die nüchterne «NZZ» schreibt von einem «Fiasko». Ganz anders behandelt die NSDAP den versuchten Putsch: Die Rede ist von einer «nationalen Erhebung», einem «Opfergang deutscher Männer und Frontsoldaten». Der Putsch wird zur blutigen Geburtsstunde der «Bewegung» verklärt. In seinem Buch schildert Sven Felix Kellerhoff den Putsch und seine Hintergründe und widmet sich dabei Zeugnissen, die bisher kaum Beachtung fanden.
Auch in den Niederlanden («Karnevalsposse»), in Italien («operettenhaft»), in Ungarn («ganz einfach lächerlich»), in Schweden («hoffnungsloser Versuch») und in den USA («Sturm im Wasserglas», «schwerer Reinfall») beurteilten die Medien den Putschversuch abschätzig. Entsprechend fällt auch das Urteil der Historiker aus. Von «Bluff» ist da die Rede (Alan Bullock), von «Posse und Brigantentum» (Joachim Fest), von einem blossen «Abenteuer» (Ian Kershaw), das «historisch kaum von Interesse» sei (Marlis Steinert). Da setzt Sven Felix Kellerhoff mit seinem Buch über Hitlers Putschversuch ein. Er fragt: «Treffen diese Urteile zu? War Hitlers erster Griff nach der Macht tatsächlich so aussichtslos? Handelte es sich um ein von vorneherein zum Scheitern verurteiltes Unternehmen? Oder waren die Ereignisse jener rund 16 Stunden vielleicht das so natürlich nicht vorgesehene Ende eines ganz anderen Plans? Eines Vorhabens, das grösser angelegt war als nur auf die wenigen Quadratkilometer der Münchner Innenstadt vom Bürgerbräukeller rechts der Isar bis zum Odeonsplatz zu zielen?»
Für sein Buch hat er nicht nur die offiziellen bayrischen Dokumente und die zeitgenössischen Zeitungen als Quellen hinzugezogen, sondern auch die «leider nur indirekt und auszugsweise überlieferten Ergebnisse der Ermittlungen, die Zeugenaussagen während des Prozesses gegen Hitler 1924», das vom NSDAP-Hauptarchiv gesammelte Material sowie weitere Bestände. Daraus entwickelt er eine neue Perspektive auf den «Operettenputsch» und klärt daraus aus«viele der sonst meist übergangenen offenen Fragen».
Seine zentrale Erkenntnis: Es war deutlich mehr als eine Phrase, wenn Hitler 1922/23 von einem «Marsch auf Berlin» sprach. Der Zeitpunkt ist kein Zufall, sondern das Resultat einer Vorbereitung von langer Hand: Im ganzen Land standen bewaffnete Trupps von SA und NSDAP bereit, um auf Befehl aus München loszuschlagen. Kein Zweifel: Mit dem «Bierhallen-Putsch» wollte Adolf Hitler die Macht über ganz Deutschland ergreifen.
Kellerhoff sagt, dass bisher der Kontext des Putsches zu sehr ausgeblendet worden sei. Deutschland wurde 1923 doppelt bedroht: Aussenpolitisch von Frankreich, innenpolitisch durch den «bevorstehenden, teilweise bereits eingeleiteten Aufstand der Kommunisten». Hitler hatte zudem ein Vorbild: Der italienische Faschisten-Führer Benito Mussolini hatte in Italien bereits vorgemacht, wie man sich an die Macht putscht. Kellerhof sagt denn auch, der «Marsch auf Berlin» habe dem Muster des »Marsches auf Rom» gefolgt. Sein Fazit: Die Demokratie stand in Deutschland im Herbst 1923, nur fünf Jahre nach ihrem Sieg, tatsächlich am Abgrund. «Sie wurde bedroht gleichermassen von links wie von rechts. Die Aussicht auf einen siegreichen Putsch reaktionärer Kreise erledigte sich vor allem, weil der Reichspräsident anders entschied, als seine Gegner angesichts seiner Parteizugehörigkeit vermutet hatten.»
In seinem Buch Kellerhoff erzählt spannend und anschaulich die Geschichte des Putschs, von der Ausgangslage bis zu seinen Folgen. Wie Reichspräsident Friedrich Ebert nach dem Mord an Walther Rathenau einen Bürgerkrieg verhindern musste. Wie die Verbote antirepublikanischer Organisationen zur Chance werden. Doch als Profiteur erweist sich ausgerechnet eine noch radikalere Bewegung: die NSDAP. Wie die Rechtspartei Benito Mussolini bewundert, der die Schwäche seiner Gegner in Rom erfolgreich zu nutzten wusste. Seine deutschen Bewunderer von der NSDAP erkennen im Vorgehen des »Duce« ein Muster, dem sie nacheifern wollen. Zur Ausgangslage gehört auch, dass Frankreich das Ruhrgebiet besetzt. In dieser Gemengelage erstarken Kommunisten und Nationalsozialisten gleichermassen. Beide neigen zu ähnlich radikalen Lösungen und scheuen nicht vor Strassenschlachten und Gewalt zurück. Obwohl Hitler und seine Getreuen in München die Strassen dominieren, schaffen Sie es im November 1923 nicht, das Schiff zum Kentern zu bringen und die Macht an sich zu reissen. Der Putsch von Hitler und Ludendorff kommt dabei keineswegs überraschend.
Der Putsch bleibt mit seiner pathetischen Operettenhaftigkeit zwar aussichtlos, aber nicht folgenlos. Im Rahmen des Prozesses gegen ihn kann sich Hitler vor Gericht als Retter Deutschlands inszenieren. Die Demokratie, das zeigt das Buch ganz deutlich, ist fragiler als wir alle meinen.
Sven Felix Kellerhoff: Der Putsch. Hitlers erster Griff nach der Macht. Klett-Cotta, 368 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-608-98188-9
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783608981889
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