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Der Psychopath in mir

Publiziert am 8. September 2022 von Matthias Zehnder

James Fallon ist Neurowissenschaftler, also Hirnforscher. Er ist Professor an der Fakultät für Psychiatrie und Humanverhalten der medizinischen Hochschule der Universität Kalifornien in Irvine. Er beschäftigt sich unter anderem mit der Erforschung der Parkinson-Krankheit und chronischer Schlaganfälle, mit Alzheimer und neurologisch bedingten Psychopathen. Im Rahmen einer Analysereihe hat er über viele Jahre hinweg Hirnscans psychopathischer Mörder vorgenommen, den schlimmsten Verbrechern, die man sich nur vorstellen kann. Fallon stellte fest, dass die Gehirne der Psychopathen in bestimmten Hirnbereichen, die normalerweise mit Selbstbeherrschung und Empathie in Verbindung gebracht werden, ein seltenes und alarmierendes Muster niedriger Hirnaktivität aufwiesen. Zur selben Zeit, als er die Scans der Mörder untersuchte, arbeitete er auch an der Frage, ob es für die Alzheimer-Krankheit eine genetische Veranlagung gibt. Als Kontrollgruppe für die Untersuchungen hatte Fallon auch bei einer Reihe von Kollegen und in seiner Familie Gentests und Hirnscans vorgenommen. Als er die Hirnscans seiner Familie analysierte, stellte er fest, dass ein Hirnscan der Mördergruppe in den Stapel seiner Familie geraten war. Er bat seine Assistenten, die Nummer des Scans aufzulösen und den Scan korrekt abzulegen. Doch der Scan war richtig abgelegt: Das Bild des Hirns mit den Mustern eines psychopathischen Mörders stammte aus seiner Familie. Es war das Bild seines eigenen Gehirns. 

Die Erkenntnis, dass er selbst Anlagen zum Psychopathen hat, brachten sein Weltbild ins Wanken. «Ich bin durch und durch Wissenschaftler – ein Neurowissenschaftler, der die Anatomie und Funktionen des Gehirns untersucht», schreibt Fallon. «Mein ganzes Erwachsenenleben hindurch habe ich Verhalten, Motivation und Moral von dieser Warte aus betrachtet. Für mich sind wir Maschinen, wenn auch solche, die wir nicht besonders gut verstehen, und ich habe jahrzehntelang den Standpunkt vertreten, dass wir das, was wir tun und was wir sind, nur zu einem sehr geringen Grad beeinflussen können. Für mich beruhten Persönlichkeit und Verhalten zu 80 Prozent auf der Veranlagung (den Genen) und nur zu 20 Prozent auf der Umwelt (wie und in welchem Umfeld wir aufwachsen).» Und dann kam diese Überzeugung auf schmerzhafte Weise ins Wanken: Wenn das Gehirn so entscheidend ist und sein Gehirn Anzeichen von Psychopathie aufweist – warum ist er selbst dann kein Psychopath? Oder ist er einer, merkt es aber nicht?

Die Merkmale von psychopathischen Mördern im Gehirn (genauer: in PET-Scans, also in Scans, welche die Hirnaktivität aufzeigen) sind nicht etwa lose Anhaltspunkte. Fallon war in der Lage, aus einem Stapel Hirnscans präzise die Psychopathen herauszufischen. Dies deshalb, weil bei Psychopathen bestimmte Teile des Gehirns, die für die Emotionskontrolle zuständig sind, schwach bis gar nicht aktiv sind. All diese inaktiven Bereiche zusammen gehören zu einem wichtigen Teil des Gehirns, dem limbischen oder auch emotionalen Cortex, wo ein Grossteil der Emotionsregulation stattfindet. 

Als Fallon bei sich selbst dieselbe Inaktivität in den Hirnarealen feststellt, wie sie für Psychopathen charakteristisch sind, fand er das zuerst witzig: «Wenn man erst jahrelang gebeten wird, die Gehirne von Mördern zu analysieren, endlich ein Muster entdeckt und dann feststellen muss, dass man selbst in dieses Muster fällt, ist das witzig. Hätte ich auch nur eine Sekunde in Erwägung gezogen, dass ich wirklich ein Psychopath sein könnte, hätte mich das vielleicht ernüchtert. Doch das tat ich nicht.» Denn Fallon war zwar ein renommierter Neurologe, aber er wusste wenig über Psychopathie. Er war sicher, dass er selbst ein ganz normaler Mann war.

Fallon hatte also das Gehirn eines Psychopathen und er hatte die entsprechenden Vorfahren in seiner Ahnenreihe. Er hatte also möglicherweise auch die Gene eines Psychopathen. Tatsächlich: Er verfügt über das so genannte «Kriegergen», eine Version des MAOA-Gens, die mit aggressivem Verhalten verknüpft wird. Dennoch unterschied er sich deutlich von den Serienmördern, mit denen er sich beschäftigt hatte. Das passte nicht zusammen, und solche Ergebnisse lassen einen Wissenschaftler nicht zur Ruhe kommen: «Das deutete für mich darauf hin, dass für die Entstehung von Psychopathie zwar möglicherweise gewisse Hirnschäden oder Funktionsverluste notwendig sind, aber nicht ausreichend. Es musste also noch weitere Faktoren geben.» Obwohl er fest davon überzeugt war, dass wir ein Produkt unserer Gene sind, nicht der Erziehung, begann er, darüber nachzudenken, dass Umfeld und Erziehung womöglich doch eine wichtige Rolle dabei spielen, ob jemand kriminell wird oder nicht.

Fallon stellt fest, dass die überwiegende Mehrzahl psychopathischer Mörder in der Kindheit schwere Misshandlungen erlitten hat. Das könnte der Schlüssel sein. Er folgert, dass Psychopathie auf einem «Dreibeiner» beruht:

  1. Eine ungewöhnlich schlechte Funktion des orbitalen präfrontalen Cortex und des vorderen Temporallappens einschliesslich der Amygdala,
  2. die Hochrisikovariante verschiedener Gene, von denen das Kriegergen das bekannteste war, und
  3. emotionale oder körperliche Misshandlung oder sexueller Missbrauch in der frühen Kindheit.

Offenbar kann Misshandlung und Aggression in der Kindheit zu einem Schalter werden, der eine genetische Anlage aktiviert. Eine Folge dieser These sind Überlegungen zu aggressiven Gesellschaften: In Gebieten, in denen seit mehreren Generationen Bürgerkrieg oder Krieg herrscht, werden die Menschen aggressiver, weil entsprechende Veranlagungen im Kindesalter eher aktiviert werden. Gewalt lässt sich also säen und tief, ja sogar genetisch, in den Menschen verankern. Dass Fallon selbst nicht zum Psychopathen geworden ist, verdankt er seiner Mutter. Sie hat verhindert, dass die Schalter in seinem Gehirn ihn auf Mörder stellten.

James Fallon: Der Psychopath in mir. Die Entdeckungsreise eines Neurowissenschaftlers zur dunklen Seite seiner Persönlichkeit. Langen/Müller, 288 Seiten, 27.90 Franken; ISBN 978-3-7844-3638-8

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