Buchtipp

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Der neue Gott
Die Parallele liegt auf der Hand: Wer weiss alles, weiss auf alles eine Antwort, hört ohne Wenn und Aber zu und weiss in allen Lebenslagen weiter? Richtig: Die Künstliche Intelligenz. In ihrem Buch argumentiert Claudia Paganini ausgehend von einem Streifzug durch die Religionsgeschichte, dass die Menschheit mit der KI gerade eine neue Gottheit ins Leben ruft. Es geht ihr dabei weniger um eine Untersuchung der spezifischen Fähigkeiten der KI und auch nicht um eine theologische Analyse, sondern um die religiösen Empfindungen, Erwartungen und die spirituellen Sehnsüchte der Menschen und darum, inwiefern die KI diese als «Gott des dritten Jahrtausends» befriedigt. Als Philosophin blickt Paganini dabei nüchtern auf die Religionen. Es geht im Buch aber auch gar nicht um eine Bewertung der Religionen, sondern um eine Analyse der religiösen Sehnsüchte. Es geht ihr, mit anderen Worten, nicht um Gott, sondern um das Gottesbild der Menschen. Sie zeigt schlüssig, wieviele der Bedürfnisse, welche die Menschen bisher mit dem Glauben an Gott befriedigten, sich heute durch die Nutzung einer künstlichen Intelligenz abdecken lassen. Die ist zwar auch unsichtbar und irgendwie schwer fassbar, hat aber immer Zeit und gibt prompt Antwort. Ist die KI also ein neuer Gott?
Über Gott lässt sich wissenschaftlich nicht arbeiten – Gott ist nicht greifbar. Claudia Paganini richtet ihr Augenmerk deshalb nicht in den Himmel, sondern auf Erden und fragt, wozu Menschen Gott brauchen. «Letztere Frage drängt sich umso mehr auf, als Menschen Wesen sind, die in aller Regel nach einem Nutzen streben und kaum jemals etwas tun, von dem sie sich nicht – bewusst oder unbewusst – einen Vorteil erwarten», schreibt sie. Und folgert: «Wenn Menschen also über Jahrtausende hinweg Götter angebetet haben, dann sollte man erwarten, dass sie daraus einen Nutzen gezogen haben, und zwar umso mehr, als sie im Namen dieser Götter bereit waren, sich an moralische Regeln zu halten, Opfer darzubringen, Geld zu spenden, Kriege zu führen, Gefängnis oder Folter in Kauf zu nehmen und Selbstmordattentate durchzuführen.»

Was ist also der Mehrwert von Gottesglaube? Sinn, eine Aufhebung der Endgültigkeit des Todes, allenfalls Machtansprüche. «Ganz besonders ‹nützt› Gott dem Menschen jedoch, weil dieser nur in ihm sein Bedürfnis nach einem transzendenten Du zu stillen vermag.» Oder etwas prosaischer formuliert: Der Mensch braucht in Zeiten der Unsicherheit ein Gegenüber, das ihn mit Antworten versorgt. Aber ist die Hinwendung an eine KI statt an Gott nicht ein billiger Abklatsch, ein blosses Surrogat? Möglich. Aber die Menschen, schreibt Paganini, hätten sich längst an digitale Surrogate gewöhnt. Dazu kommt: «Im Fall des KI-Gottes stellt sich sogar – bzw. in erster Linie – die Frage, ob es sich bei diesem überhaupt um ein Surrogat des ‹echten› Gottes handelt, d. h. um etwas, das eine ‹richtige› Beziehung ersetzt. Der Grund dafür ist simpel: Nur sehr wenige Menschen können von sich behaupten, dem nicht-künstlichen Gott begegnet zu sein oder gar regelmässig zu begegnen, sich von ihm angesprochen zu wissen, wie man sich im Gespräch von einer guten Freundin angenommen und verstanden fühlt.» So gesehen ist die KI realer als das, was sie ersetzt.
In ihrem Buch dekliniert Paganini das Gottesbild der Religionen quasi durch und stellt fest, dass die KI auf ähnliche Art und Weise einzig, allgegenwärtig, allwissend, allmächtig, transzendent, nahbar, gerecht, sinnstiftend und fürsorglich ist. Bleibt die Frage, wem die neue Macht nützt. «Spontan könnte man erwidern: jedem und jeder. Denn auf einer pragmatisch banalen Ebene zeigt sich, dass KI immer billiger werden und somit für alle erschwinglich sein wird», schreibt sie. Dient die KI also uns allen? Oder nur einer privilegierten Gruppe? War das in der Religionsgeschichte anders? «Während die Gottheit für die breite Masse unbegreiflich, unfassbar und gleichermassen Heilsverheissung wie diffuse Bedrohung bleibt, partizipieren einzelne auserwählte Personen an der göttlichen Autorität und ziehen für sich bzw. für die ihnen Nahestehenden einen Nutzen daraus», schreibt Paganini. Sie haben es von den Opferritualen der Antike bis zum Ablassverkauf des Mittelalters verstanden, aus Gott auch ein Geschäft zu machen. «Waren die Boten zwischen den Sphären in der Vergangenheit Schamanen, Priester, Propheten bzw. diejenigen, die sie befehligt haben, werden es in Zukunft Informatiker und KI-Experten bzw. diejenigen sein, die ihre Forschung finanzieren, die die Macht haben, die spirituelle Sehnsucht des gemeinen Volkes zu ihren Gunsten zu nutzen und aus ihr ökonomisches wie kulturelles Kapital zu schlagen.»
Claudia Paganini führt uns in ihrem Buch mit ungewohnten Vergleichen zwischen Religionsgeschichte und künstlicher Intelligenz vor Augen, dass Ähnlichkeiten zwischen KI und Gott nicht von der Hand zu weisen sind. Nicht, weil sich KI und Gott so ähnlich wären, sondern weil wir Menschen uns ihnen gegenüber ähnlich verhalten. Ein spannender Ansatz.
Claudia Paganini: Der neue Gott. Künstliche Intelligenz und die menschliche Sinnsuche. Herder, 192 Seiten, 29.50 Franken; ISBN 978-3-451-60146-0
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783451601460
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