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Der Angriff

Publiziert am 4. Mai 2023 von Matthias Zehnder

Serhii Plokhy ist Professor für ukrainische Geschichte in Harvard und Direktor des dortigen Ukrainian Research Institute. Er stammt aus Saporischschja und hat mehrere Bücher zur osteuropäischen Geschichte geschrieben, darunter «Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine». Als die russische Armee die Ukraine überfiel, befand er sich in Wien. Er recherchierte im Archiv der Internationalen Atomenergie-Organisation die Geschichte der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986. Wenige Tage zuvor hatte er dem Magazin «New Yorker» ein Interview gegeben und gesagt: Er wisse nicht, was passieren werde, aber es wisse, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen und Widerstand leisten werden. Die Ereignisse der folgenden Tage und Wochen zeigten, dass er mit seiner Vorhersage richtig gelegen hatte. Doch das Ausmass des Widerstands, ja des ganzen Krieges, das «überstieg meine damalige Vorstellungskraft», schreibt Plokhy: «Die Invasion, die Putin als ‹Militäroperation› bezeichnete und die nur ein paar Tage oder höchstens ein paar Wochen dauern sollte, wurde zum grössten konventionellen Krieg in Europa seit 1945.»

Mit seinem Buch möchte Serhii Plokhy diesen Krieg erklären. Dafür blättert er zurück in der Geschichte Russlands. Auch wenn der Grossangriff auf die Ukraine im Februar 2022 dramatisch und schockierend für uns alle war, «werde ich nicht der Versuchung erliegen, den 24. Februar 2022 als sein Anfangsdatum zu bezeichnen», schreibt Plokhy. Dies deshalb, weil der Krieg schon genau acht Jahre zuvor begonnen hat, am 27. Februar 2014, als russische Truppen das Parlamentsgebäude der Krim besetzten. Danach schwelte der Konflikt sieben Jahre lang als «unerklärter Krieg mit Granatfeuer und Schüssen über die Demarkationslinie in der ukrainischen Donbas-Region weiter». Mehr als 14’000 Ukrainer kostete der Konflikt in dieser Phase das Leben. Trotzdem erregte der schwelende Krieg kaum internationale Aufmerksamkeit. Und dann marschierte Russland im Februar 2022 in die Ukraine ein.

In seinem Buch beschäftigt sich Plokhy mit den Ursprüngen dieses Konflikts. Er blättert zunächst zurück ins Jahr 1991: Am 25. Dezember dieses Jahres erklärte Michail Gorbatschow live im Fernsehen seinen Rücktritt als Präsident der UDSSR. «Als Gorbatschow um 19:12 Uhr seine Rede beendete, gab es die Sowjetunion offiziell nicht mehr», schreibt Plokhy. «Das kommunistische Regime, dem es gelungen war, das russische Zarenreich vor dem Zerfall zu bewahren, sich zu einer Supermacht zu entwickeln und die Welt mit der atomaren Vernichtung zu bedrohen, hatte aufgehört zu existieren.» Der Auslöser dafür ist in der Ukraine zu suchen: Der Zerfall der Sowjetunion wurde am 1. Dezember 1991 unumkehrbar, «als die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine, der zweitgrössten Unionsrepublik nach Russland, an den Wahlurnen für die Unabhängigkeit ihres Landes votierten», schreibt Plokhy. «Die Wahlbeteiligung lag bei über 84 Prozent der Wahlberechtigten, und mehr als 92 Prozent von ihnen entschieden sich für die Unabhängigkeit.» Auch die Bewohner des Donbas, der Krim und von Sewastopol sprachen sich deutlich für die Unabhängigkeit der Ukraine aus.

Für Russland, selbst für Gorbatschow, war das ein Schock. Denn die Ukraine, das beschreibt Plokhy präzise, ist das legendäre Ursprungsland der Russen. Allerdings muss man dafür bis ins 10. Jahrhundert zurückblättern. Plokhy beschreibt die Geschichte Russlands, den Aufstieg des Imperiums unter den Zaren, die kommunistische Revolution, der Untergang des Reichs, der Zusammenbruch der Sowjetunion, bis zur bewaffneten Rebellion 1993 zur Zeit von Boris Jelzin. Und natürlich beschäftigt sich Plokhy ausführlich mit Wladimir Putin.

Das Kapitel über Putin beginnt er mit einer Anekdote: Im Herbst 2008 fragte Wladimir Putin den Chefredakteur des damals noch von den Behörden geduldeten liberalen Radiosenders Echo Moskaus, Alexei Wenediktow, was über ihn, Putin, in die Geschichtsbücher der Schulen Eingang finden würde. Das ist vermutlich eine der wichtigsten Triebfedern des Handelns von Putin: Welches Bild hinterlässt er in den russischen Schulbüchern? Bis jetzt wird da stehen, dass Chruschtschow die Krim zurückgegeben und Putin sie sich wiedergeholt hat. Plokhy schreibt, dass Putin sich dabei nicht nur mit sowjetischen Führern wie Chruschtschow vergleicht, sondern auch mit den russischen Kaisern Peter I., Alexander II. und Kaiserin Katharina II. Ihre Büsten und Porträts stehen in Putins Vorzimmer im Kreml. Keine Frage: Er misst sich mit ihnen. Im Juli 2021 überraschte er mit der Veröffentlichung eines langen historischen Essays, den er, wie Plokhy süffisant anmerkt, «allem Anschein nach selbst verfasst hatte, wenngleich vielleicht mit ein wenig fremder Hilfe». Unter dem Titel «Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern» versucht er in diesem Aufsatz, diese These historisch zu untermauern.

Putin selbst sieht in der Ukraine ein «Antirussland», eine, wie er selbst schreibt, «Barriere zwischen Europa und Russland, als ein Sprungbrett gegen Russland», die auf ein Komplott böser westlicher Kräfte zurückzuführen sei. Plokhy kommentiert: «Daraus spricht Putins Verärgerung über die ukrainische Demokratie, die immer wieder politische Führer hervorbringt, die sich der Idee der Unabhängigkeit der Ukraine verschrieben haben.»

Das Buch entstand zwischen März 2022 und Dezember 2022. Plokhy beschreibt die Phasen des Kriegs in diesem ersten Kriegsjahr. Das ist, auch wenn wir das meiste davon aus den Medien kennen, äusserst spannend zu lesen, weil er anekdotisches mit historischen Kommentaren verschränkt und es uns so ermöglicht, mit etwas Distanz zu den Ereignissen den Krieg und seinen Verkauf besser zu verstehen. Natürlich kann Plokhy nicht vorhersagen, wann und wie dieser Krieg endet. Er gibt aber eine Einschätzung der lokalen und globalen Veränderungen, welche die Zukunft der Ukraine, Russlands, Europas und der restlichen Welt beeinflussen und wahrscheinlich sogar bestimmen werden. Eine ganz wichtige Konsequenz: Der Angriff hat die Ukraine als Nation gestärkt. «Einiges spricht dafür, dass die ukrainische Nation vereinter und mit stärkerer Identität als zu jedem anderen Zeitpunkt ihrer modernen Geschichte aus diesem Krieg hervorgehen wird», schreibt Plokhy.

Umgekehrt führt der Krieg dazu, dass Russland seine Hoffnungen begraben muss, ein neues globales Zentrum in jener multipolaren Welt zu werden, von der russische Politiker und Diplomaten seit den 1990er Jahren träumten. Der Krieg «legte Schwächen nicht nur bei Russlands eindeutig überschätzter Armee offen, sondern auch in Bezug auf sein wirtschaftliches Potenzial», schreibt Plokhy. Er sagt, die schwedischen und finnischen Nato-Beitrittsgesuche seien «nicht nur Reaktionen auf die Gefahr, die von Putins Schurkenregime ausging». Die Beitrittsgesuche beruhten auch auf der Erkenntnis, dass «ein stark geschwächtes Russland nicht in der Lage sein würde, etwas gegen diesen Schritt zu unternehmen.» Dazu kommt: Russland hat praktisch keine Verbündeten mehr. China redet zwar von «unbegrenzter» Freundschaft, zeigt Russland tatsächlich aber eine ziemlich kalte Schulter.

Global, schreibt Plokhy, habe der Krieg zu einem erneuten Schulterschluss zwischen den USA und Europa geführt und im Osten zu einem Rollentausch: «China hat das Steuer übernommen, und Russland ist nun der ärmere und waghalsigere Bündnispartner – die Rolle, die ursprünglich China innehatte.» Plokhy sieht klare Anzeichen dafür, dass es sich «bei Russlands Abkehr vom Westen nicht um eine vorübergehende Phase handelt. Aber wie dauerhaft oder beständig dieser Trend angesichts der Ungewissheit von Russlands Beziehungen zu Europa und den Vereinigten Staaten einerseits und zu China andererseits sein wird, ist schwieriger vorherzusagen.» Sicher ist: Die Zentren der Welt heisse nicht mehr Washington und Moskau, sondern Washington und Peking.

Das Buch trägt wesentlich dazu bei, Russlands Krieg gegen die Ukraine besser zu verstehen. Gerade wenn Sie genug haben von Kriegsnachrichten, sollten Sie das Buch von Serhii Plokhy lesen.

Serhii Plokhy: Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt. Hoffmann und Campe, 496 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-455-01588-1

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783455015881

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