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Demokratie braucht Religion

Publiziert am 8. November 2022 von Matthias Zehnder

Wenn man sich die Zahlen der Kirchenaustritte anschaut, könnte man meinen, dass die Gesellschaft Kirchen und Religionen nicht mehr braucht. Der deutsche Soziologe Hartmut Rosa fragt denn auch: «Brauchen wir sowas hier? Oder ist das nur ein Anachronismus? Ist Kirche letzten Endes ein Überbleibsel aus einer anderen Form der Gesellschaft und auch aus einer anderen Form der Weltbeziehung?» Seine Antwort ist überraschend. Er sagt, die Gesellschaft befinde sich in einer Krisensituation, weil sie gezwungen sei, sich permanent zu steigern, zu beschleunigen, sich voranzutreiben, gleichzeitig aber den Sinn der Vorwärtsbewegung verliere. In seinem Buch möchte er Sie (wohlverstanden: als Soziologe, nicht als religiöser Mensch) davon überzeugen, dass Kirche eine «verdammt wichtige, eine sehr wichtige Rolle in dieser Gesellschaft» spiele. Und zwar ganz einfach deshalb, weil Rosa glaubt, dass die Kirche der Gesellschaft etwas anzubieten habe. Rosa nennt es Resonanz. Sein Kernsatz: «Demokratie bedarf eines hörenden Herzens, sonst funktioniert sie nicht.» Die Kirchen sind in der Lage, der Gesellschaft dieses hörende Herz zu geben. Spannende Gedanken!

Unsere Gesellschaft befindet sich im Zustand eines atemlosen, rasenden Stillstands, der laut Hartmut Rosa einen hohen Preis hat: «Wir merken ja, diese Gesellschaft sucht verzweifelt nach einer alternativen Form der Weltbeziehung, des In-der-Welt-Seins. Und wo kann diese Gesellschaft nach anderen Formen des In-Beziehung-Tretens zum Leben, sogar zum Universum, zum Kosmos, zur Natur suchen? Wo finden wir dieses alternative Reservoir?»

Denn wir leben in einem System, in dem wir jedes Jahr schneller werden müssen: Wir müssen wachsen. Rosa schreibt: «Wir müssen beschleunigen, wir müssen innovativ sein, die Ersten, die das neue Produkt haben, die Ersten, die die besseren Produktionsweisen haben. Wir müssen sozusagen mehr produzieren, damit wir das Bestehende erhalten können. Das bedeutet auch, dass wir eigentlich jedes Jahr mehr physische Energie investieren müssen – egal, ob aus Wind, Sonne, Kohle, Atomkraft oder sonst woher. Wir brauchen immer mehr Energie, um das Steigerungsspiel am Laufen zu halten, das heisst, um das Bestehende zu erhalten.»

Es ist ein fatales Spiel und es hat uns voll und ganz im Griff. Das Resultat davon ist übrigens Burnout: Ein Ausbrennen der Energiereserven im wörtlichen Sinn, aber auch im übertragenen Sinn bei jedem einzelnen Menschen. Damit die Gesellschaft, damit unsere Demokratien wieder zu achtsamen Gesellschaften werden, brauchen sie, was Rosa ein «hörendes Herz» nennt. «Ein solches hörendes Herz fällt aber nicht vom Himmel, überhaupt ist diese Haltung in einer Aggressionsgesellschaft besonders schwer einzunehmen.» Insbesondere die Kirchen würden über die «Narrationen, über ein kognitives Reservoir verfügen, über Riten und Praktiken, über Räume, in denen ein hörendes Herz eingeübt und vielleicht auch erfahren werden kann».

Rosa sagt: «Das Wichtigste ist, dass ich aufhöre.» «Aufhören» sei eines seiner Lieblingswörter. Das Wort meint einerseits anhalten, stoppen. Andererseits heisst das Wort «auf-hören», dass ich, so Rosa, «während ich am Abarbeiten der To-do-Liste bin, mich im Hamsterrad, im rasenden Stillstand verausgabe, aufwärts höre, nach aussen lausche, mich anrufen und erreichen lasse von etwas anderem, von einer anderen Stimme, die etwas anderes sagt als das, was auf meiner To-do-Liste steht und was sowieso erwartbar ist und sozusagen im funktionalen Austausch besteht.» Aufhören meint also auch aufhorchen.

Die Gesellschaft im Allgemeinen und die Demokratie im Besonderen bedarf dieser Fähigkeit, sich anrufen zu lassen. Diese Fähigkeit bezeichnet Rosa mit dem Begriff der Resonanz: «Es ist nicht nur eine Fähigkeit, es ist ein anderes Weltverhältnis». Er schreibt: «Wenn meine Diagnose richtig ist, dann stehen wir genau vor diesem Problem: Ich bin immerzu im Aggressionsmodus, denn ich muss das noch abarbeiten, ich muss jenes kaufen, ich will dies haben, ich will das erfahren, und so weiter.» Und die Frage ist natürlich: Geht es auch anders?

Was brauchen wir also in dieser Gesellschaft, damit «es» anders geht? Rosa schreibt: «Ich glaube, diese Gesellschaft braucht die Rückbesinnung auf genau diese Fähigkeit der Anrufbarkeit und die Erfahrung der entsprechenden ergebnisoffenen Selbstwirksamkeit.» Seine Behauptung ist, dass Religion im Kern darauf abzielt, Resonanzräume bereitzustellen. «Sie verfügt über die Elemente, die uns daran erinnern können, dass eine andere Weltbeziehung als die steigerungsorientierte, auf Verfügbarmachung zielende möglich ist.»

Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion. Mit einem Vorwort von Gregor Gysi. Kösel, 80 Seiten, 17.50 Franken; ISBN 978-3-466-37303-1

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783466373031

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