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Demokratie als Zumutung

Publiziert am 26. Juli 2022 von Matthias Zehnder

Zunächst sucht Felix Heidenreich mit politikwissenschaftlichen Mitteln nach den Ursachen der Krisen der Demokratie. Dann wendet er sich den Lösungen zu. Partizipation und Deliberation sind zu den zentralen Hoffnungen bei der Suche nach einer Überwindung der Demokratiekrise geworden. Aber halten sie dieses Versprechen tatsächlich? Partizipation kann nämlich die Form von Konsum annehmen und in eine rein ökonomische Sicht abgleiten. Im schlimmsten Fall besteht die Partizipation nur noch darin, eine möglichst präzise Bestellung aufzugeben und dann darüber frustriert zu sein, dass «die Politik» nicht «liefert». Heidenreich plädiert deshalb dafür, Bürgerinnen und Bürger als «responsive Wesen» wiederzuentdecken: «Demokratien sind an sich unbequemer als autoritäre Regime, die zumindest in vielen Fällen das Biotop ungestörter Privatheit anbieten. Zumindest republikanisch verstandene Demokratien fordern etwas – und verändern damit jene, an die sich diese Forderungen richten.» Zu den Bürgerpflichten in einer Demokratie können Wehr- und Bürgerdienste gehören, die Wahlpflicht oder die verpflichtende Mitarbeit am Justizwesen. Für Heidenreich stecken darin die Möglichkeiten, wie sich Bürgerinnen und Bürger nicht nur als Konsumenten ansprechen lassen. Spannend ist sein Ausblick auf die Freiheit: Für Heidenreich beinhaltet politische Freiheit ganz andere Denkbilder als ökonomische Freiheit. Heidenreich: «In der Demokratie gibt es nicht nur Wahlfreiheit, sondern auch die Freiheit, sich gegenseitig in Anspruch zu nehmen.» Ein spannendes Buch.

Seit dem Angriff von Russland auf die Ukraine wird der Krieg als Angriff auf die westlichen Demokratien bezeichnet. Dabei besteht die Gefahr, dass ebendiese westlichen Demokratien vergessen, dass es nicht nur die äusseren Feinde der Demokratie gibt. «Wladimir Putin und Xi Jinping haben kein überzeugendes Gegenmodell anzubieten, sonst bräuchten sie die Zensur nicht. Sie können die Demokratie nur militärisch bedrohen, nicht intellektuell», schreibt Felix Heidenreich. Gefährlich sei ihr autoritäres Modell nur, «wenn es auch in den Demokratien auf Resonanz stösst – bei denjenigen, die autoritär fühlen und denken.» Er folgert deshalb: «Die eigentliche Gefahr geht von der Erosion demokratischer Werte, Gewohnheiten, Normen aus, die im Inneren stattfindet.»

Dieser Bedrohung der Demokratien von innen geht er in seinem Buch nach. Die Entwicklungen in vielen etablierten Demokratien, aber auch in Osteuropa oder Lateinamerika zeigen, dass Demokratien «hochgradig fragile Gebilde» seien und das «Abgleiten in Autoritarismus» eine reale Gefahr darstelle. «Gerade wenn man davon ausgeht, dass die Erosion der Demokratie leise und unscheinbar vonstattengehen kann, gibt es gute Gründe, sich Sorgen zu machen, auch nach der Wahl Joe Bidens.»

Die erste Gefahr für die Demokratie sieht Heidenreich denn auch in der autoritären Herausforderung. Es gelte, die «Verfechter autoritärer, xenophober oder populistischer Demokratiekonzeptionen als das zu sehen, was sie sind: Feinde der Demokratie, nicht bloss Gegner in einem fairen Wettbewerb». Auch und gerade wenn sie selbst das Gegenteil für sich in Anspruch nehmen und sich als Retter der «wahren» oder Ermöglicher einer «eigentlichen» «Volksdemokratie» inszenieren. Was diese Autokraten als «Demokratie» bezeichneten, sei «nichts anderes als eine ethnozentrische, den Institutionen und Verfahren des Rechtsstaats feindlich gegenüberstehende politische Ideologie». Es sei das Gegenteil von Demokratie, wenn eine «illiberaler Demokratie», wie sie etwa Ungarn pflegt, die Möglichkeiten der Opposition beschneidet, Minderheitenrechte aussetzt und ein Klima der Feindseligkeit und der Verleumdung schafft.

Interessant sind die Betrachtungen rund um die Ökonomisierung der Politik, die Felix Heidenreich anstellt. Er schreibt, dass sich gerade «das an ökonomischen Modellen geschulte Denken» leicht dazu verführen lasse, «so etwas wie eine Tendenz zu Mittelwerten anzunehmen». Denn das sei aus der Wirtschaft bekannt: «Preise, Angebote, ja selbst Börsenwerte streben trotz heftiger Ausschläge langfristig auf so etwas wie ausgeglichene Mittelwerte zu.» Ökonomen sagen deshalb gerne, dass das Pendel auch wieder in die andere Richtung schwingen werde.

Laut Felix Heidenreich lassen sich aber ökonomische Modelle nicht so einfach auf die Politik übertragen: «Nichts gibt Anlass zu der Vermutung, dass sich die repräsentativen, liberalen Demokratien wie durch Naturgesetze oder eine unsichtbare Hand des politischen Marktes selbst stabilisieren werden.» Das Bild des Pendels sei verführerisch: «Es suggeriert, es gäbe so etwas wie eine natürliche Schwerkraft, die die Dinge wieder ins Lot bringen werde.» Doch in der Politik gibt es keine Schwerkraft, das zeigen Regime wie die Regierungen in der Türkei, in Ungarn oder in Brasilien. 

Ein zweiter Denkfehler besteht laut Laut Felix Heidenreich in der Bildung falscher historischer Analogien. Es stimme zwar, dass zahlreiche Phänomene der Gegenwart auch schon früher zu beobachten waren. «Was heute echo-chamber heisst, war früher die Parteizeitung. Immer schon gab es Polarisierung, selbst politische Gewalt.» Vor allem in den USA sei deshalb immer wieder zu hören, die Verfassung habe schon schlimmere Dinge überlebt: einen Bürgerkrieg, zwei Weltkriege, Präsidentenmorde, Vietnam, Nixon, Reagan und George W. Bush. Das Demokratiegefühl der Amerikaner sei stark, die Institutionen wehrfähig, die Öffentlichkeit wach.

Für Felix Heidenreich drücken diese historischen Analogien aber keine logische Notwendigkeit aus. Er schreibt: «Dass eine Notlandung bei Sturm und ohne Sicht bereits fünf Mal geklappt hat, besagt nicht, dass es auch beim nächsten Mal gutgehen wird.» Aus deutscher Sicht müsse gerade die Formulierung «immer schon» hellhörig machen. Es gab zwar «immer schon» Fake News, Verleumdung, Hetze, Antisemitismus und Verschwörungstheorien. «Aber vor dem Hintergrund historischer Erfahrung wird man ergänzen müssen: Immer schon gab es massenhafte politische Gewalt, den Kollaps politischer Systeme, verheerende Kriege.» Und das ist alles andere als beruhigend. 

Die Gefahr für die Demokratie ist laut Felix Heidenreich besonders deshalb akut, weil sich die neuen Feinde der Demokratie selbst als Demokraten bezeichnen: «Der neue Nationalismus, Populismus und Autoritarismus sehen anders aus als der Nationalsozialismus. Die neuen Feinde der Demokratie kommen fröhlicher, professioneller, meist, wenn auch nicht immer, weniger plebejisch daher. Man gibt sich bürgerlich oder gar postmodern, als rechte Hipster, vielleicht gar intellektuell.» Doch unter dem zeitgeistigen Puderzucker versteckt sich die alte Propaganda des Hasses. Gefährlich ist das deshalb, weil viele Konservative glauben, dass sie Populisten als nützliche Idioten instrumentalisieren können. Doch ihnen, schreibt Heidenreich, drohe «ein schreckliches Erwachen»: «Sie selbst enden als die benutzten Idioten der neuen populistischen Regierungen.»

Putins Krieg sei deshalb zwar militärisch gefährlich, aber ideologisch bestehe «die grösste Herausforderung in der internen Aushöhlung der Demokratie, – die oft im Namen der Demokratie betrieben wird». Eine weitverbreitete Erklärung dafür, dass das möglich wird, ist die Störung des Verhältnisses zwischen Bürgerinnen und Bürgern einerseits und politischen Verantwortungsträgern andererseits. Diese gefühlte Entfremdung wird meist auf die Taubheit der Politik zurückegeführt.

«Hört uns endlich zu!», scheinen aus dieser Perspektive diejenigen zu rufen, die zu den Verlierern von Globalisierung, Migration und ökonomischer Dynamisierung gehören oder sich zumindest potenziell davon bedroht sehen. Die Krise der repräsentativen Demokratie ist aus dieser Sicht abzuwenden, indem die Politik auf den Anspruch der Bürger möglichst genau und schnell antwortet. Genau das ist die Falle, welche die Populisten aufsperren. Sie versprechen nichts anderes als die unvermittelte Umsetzung des Volkswillens. 

Doch genau da ortet Felix Heidenreich grosse Unterschiede zwischen den Staaten. Während in Deutschland und der Schweiz diese Krisensymptome nicht gefährlich erscheinen, sieht es etwa in Frankreich anders aus. Die politische Kultur oszilliere hier zwischen überhöhten Erwartungen an einen Staat, der alles und jedes leisten soll, einerseits, und dem Groll gegen «die da oben» andererseits. Der Groll richtet sich gewalttätig gegen normale Polizisten, Sanitäter oder Feuerwehrleute. «Auch in der Eidgenossenschaft ist nicht alles so schön, wie es im Licht des Alpenglühens aussehen mag. Und doch: Das Verhältnis von Bürgerinnen und Bürgern einerseits und Staat andererseits ist ein ganz anderes.»

Aus genau diesen Unterschieden schöpft Heidenreich Hoffnung: «Wenn es manchen Ländern besser geht als anderen, dann doch wohl deshalb, weil man dort manche Sachen anders macht, offenbar besser. Es gibt Handlungsoptionen.» Welche das sind, zeigt Heidenreich in seinem klugen Buch über die Demokratie auf. Heidenreich sieht die Lösung in einer Umkehr oder zumindest Gleichverteilung der Problemzuschreibung. Dem einseitigen Vorwurf, «die Politik» sei zu wenig responsiv, komme nun eine ergänzende Diagnose hinzu: «Es gibt auch so etwas wie eine Krise des Bürgersinns.» 

Heidenreich schlägt deshalb vor, Bürgerlichkeit als Haltung zu verstehen. Mit bürgerlichen Parteien hat das nichts zu tun. Es geht darum, «die Bereitschaft zu finden, sich für das politische Gemeinwesen viel mehr zuzumuten, als es uns heute angemessen erscheint». Die Alternative zu einer Anspruchshaltung sei nicht ein blosser Pflichtbegriff, sondern dessen Umkehrung: «das Zulassen von Zumutung». Es geht also um eine Umkehrung der Perspektive, weg von der Frage, was die Bürgerinnen und Bürger von der Demokratie erwarten dürfen, hin zu der Frage, was ein demokratischer Staat den Bürgerinnen und Bürgern aus guten Gründen zumuten darf. 

Felix Heidenreich: Demokratie als Zumutung. Für eine andere Bürgerlichkeit. Klett-Cotta, 336 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-608-98079-0

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