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Das Zeitalter der Einsamkeit

Publiziert am 27. Mai 2021 von Matthias Zehnder

Schon bevor das Coronavirus Freundschaften und Familien auseinanderriss und uns zeitweilig in Isolation und monatelang ins Homeoffice zwang, fühlten sich immer mehr Menschen einsam, isoliert und verlassen. Die britische Ökonomin, Hochschullehrerin und Autorin Noreena Hertz spricht deshalb in ihrem neuen Buch vom «Zeitalter der Einsamkeit». In ihrem Buch versucht sie zu ergründen, warum wir so einsam geworden sind und was wir tun müssen, um wieder eine Verbindung zueinander aufzubauen.

In Grossbritannien war das Problem der Einsamkeit im Jahr 2018 derart gravierend, dass die Premierministerin sogar eine «Ministerin für Einsamkeit» einsetzte. Einer von acht Briten haben laut Studien nicht einen einzigen guten Freund, auf den er sich verlassen könne. Drei Viertel der Bürger kannten die Namen ihrer Nachbarn nicht. 60 Prozent der britischen Angestellten fühlten sich am Arbeitsplatz einsam. Die Werte für Asien, Australien, Südamerika und Afrika sind ähnlich beunruhigend. Zwangsläufig haben die Monate des Lockdowns, der Selbstisolation und des Social Distancing das Problem noch verstärkt. «Auf der ganzen Welt fühlen sich die Menschen einsam, abgeschottet und entfremdet. Wir befinden uns mitten in einer globalen Einsamkeitskrise, vor der keiner von uns gefeit ist, egal wo auf der Welt», schreibt Hertz.

Dabei ist Einsamkeit nicht nur eine subjektive Gemütsverfassung. Hertz schreibt, Einsamkeit sei «auch ein gemeinschaftlicher Daseinszustand, der einen hohen Tribut von uns als Individuen und von der Gesellschaft als Ganzer fordert, denn sie trägt jährlich zum Tod von Millionen Menschen bei, kostet die Weltwirtschaft Milliarden und stellt eine grosse Bedrohung für die Idee einer toleranten und inklusiven Demokratie dar.» Das war schon vor der Coronakrise so. «Nur hat das Virus noch deutlicher gemacht, wie ignoriert und vernachlässigt sich viele von uns fühlen – nicht nur von Freunden und Familie, sondern auch von Arbeitgebern und dem Staat; wie losgelöst wir nicht nur von  denen sind, die uns am nächsten stehen, sondern auch von unseren Nachbarn, den Arbeitskollegen und den politischen Entscheidungsträgern.»

Was tun? Noreena Hertz ist überzeugt, dass wir den dominanten Kräften, die unser Leben beherrschen, das Ausmass des Problems vor Augen führen müssen. «Regierungen, Unternehmen und wir als Individuen spielen dabei allesamt eine bedeutende Rolle. Denn die Einsamkeitskrise ist zu komplex und vielgestaltig, als dass eine einzige Instanz sie eigenständig lösen könnte.» Darin unterscheidet sich Noreena Hertz auch von anderen Wissenschaftlern, die schon über Einsamkeit geschrieben haben. Sie plädiert für eine ganzheitliche und politischere Herangehensweise. Sie ist überzeugt, dass Einsamkeit nicht einzeln auftrete, sondern Teil eines ganzen Ökosystems sei. «Wenn wir also der Einsamkeitskrise entgegenwirken wollen, ist ein Wandel des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Systems unabdingbar, und gleichzeitig müssen wir akzeptieren, dass wir selbst ebenso Verantwortung tragen.» 

Ein Grund für die Einsamkeitskrise sieht Hertz im neoliberalen Kapitalismus. Das sei eine «selbstsüchtige und eigennützige Form des Kapitalismus, die Gleichgültigkeit zur Norm und aus Egoismus eine Tugend gemacht hat sowie die bedeutende Rolle von Mitgefühl und Fürsorge herabgesetzt hat.» Eine Form des Kapitalismus, die leugne, dass «sowohl öffentliche Dienstleistungen als auch die örtlichen Gemeinschaften seit jeher eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der Menschen gespielt haben, und die stattdessen an dem Narrativ festgehalten hat, dass wir unser Schicksal selbst in der Hand haben.» Doch seine neoliberale Form sei nicht die einzige Form des Kapitalismus, nicht unsere einzige Option für die Zukunft: «Gemeinsam müssen wir eine kooperativere Form des Kapitalismus definieren und erschaffen, die nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Bedingungen erfüllt.»

Die Zeit dafür sieht Noreena Hertz jetzt gekommen. Als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise habe Präsident Franklin D. Roosevelt in den 1930er-Jahren den «New Deal» ins Leben gerufen, ein gewaltiges Behördenprogramm inklusive Hilfspaket, das zum Ziel hatte, den am härtesten von den wirtschaftlichen Verheerungen betroffenen Bürgern Entlastung und Erleichterung zu bieten sowie erweiterte Arbeits- und Sozialrechte einzuräumen. Die Regierungen müssten jetzt ihren Bürgern mindestens zusichern, dass die bereits zementierten Ungleichheiten, welche die Coronapandemie sowohl aufgedeckt als auch verschärft hat, aktiv in Angriff genommen werden und dass sie sie in besonders schwierigen Zeiten unterstützen. In vielen Ländern bedeutet das, deutlich mehr Mittel in die Gesundheits- und Sozialpolitik zu stecken. Und noch etwas sollten die Regierungen laut Ökonomin Hertz tun: die Herausforderungen der derzeitigen Arbeitslosigkeit nutzen, um mehr Menschen in bezahlten Jobs einzusetzen, die andere im Kampf gegen die Einsamkeit unterstützen. 

Spannend an dem Buch ist, dass Noreena Hertz die Einsamkeitskrise aus ökonomischer Perspektive untersucht – und entsprechend auch Lösungen vorschlägt, die auf der Wirtschaft beruhen. 

Noreena Hertz: Das Zeitalter der Einsamkeit. Über die Kraft der Verbindung in einer zerfaserten Welt. Harper Collins, 448 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-7499-0115-9

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